Zu viel der Stille

Christoph Potting in VierzigTageBuch / 28. March 2020
Zu viel der Stille

Als wir im Februar unsere Zelte am Lago d’Orta in Norditalien aufgeschlagen haben, hatten wir aufregende Pläne: Recherchen für zwei neue Bücher und ein Filmprojekt. Beglückt von diesen Perspektiven, haben wir unsere Wohnung in Frankfurt für ein Jahr vermietet und unser Haus im kleinen Dorf Ronco bezogen, das seit zwanzig Jahren unser zweites Zuhause ist. Und nun können wir es schon seit mehr als drei Wochen nicht mehr verlassen.
An die Einkäufe mit Passierschein im nächstgelegenen Supermarkt – weiter dürfen wir nicht – haben wir uns schon gewöhnt. Die meisten Leute tragen beim Einkauf einen Mundschutz, die Mitarbeiter sowieso. Wir haben uns selbst einen gebastelt, denn in der Apotheke ist keiner mehr zu haben. Was es davon gibt, geht in die Krankenhäuser. Die sind gar nicht weit entfernt und zu Orten des Todes geworden. 
Die Fahrt zum Supermarkt führt über menschenleere Straßen. An vielen Häusern und Wohnungen hängen italienische Flaggen und Regenbogenfahnen. Unsere Nachbarn in Ronco haben an der Haustür ein Schild angebracht, ihr Sohn hat es gemalt: »Andrà tutto bene« – alles wird gut. Das fühlt sich hier im Dorf, im Auge des Hurrikans, auch tatsächlich fast so an. Aber nicht sehr weit von hier, in der Lombardei, wütet der Sturm, jeden Tag sterben entsetzlich viele Menschen.
Vor wenigen Tagen haben wir bei der ersten Straßenkontrolle eine Verwarnung der Carabinieri kassiert. Wir wollten uns und unserem Hund einen Seespaziergang im Nachbardorf gönnen. Aber auch dafür dürfen wir Ronco nicht verlassen. Jetzt bleiben wir also zu Hause. Und die ersten Frühlingstage in unserem Dorf sind schön. Die Baumblüte beginnt, der Sonnenplatz vor dem Haus am See ist ein wärmender Ort mit Aussicht. Auch unser Irish Terrier Finn schätzt ihn besonders. Er beobachtet den Haubentaucher, wenn er mit einem Fisch im Schnabel an die Oberfläche zurückkommt. Die Enten und die Kormorane … 
Es ist ruhig und still, an den Abenden fast zu viel davon. Gut, wenn Wind aufkommt und das Wasser gluckst und klatscht und plätschert. An normalen Tagen wirkt bei Windstille die Wasseroberfläche des Sees wie ein akustischer Verstärker und trägt die Straßengeräusche von der anderen Seite herüber: Container und LKWs auf Huckepack-Zügen auf ihrem Weg über die Alpen, Männergruppen unterwegs auf ihren Motoguzzis auf der kurvenreichen Seestraße, das Hupen der Pendler auf ihrem Weg nach Hause. Jetzt sind stattdessen die Tiere in den bewaldeten Berghängen zu hören, ein stetiges Rufen und Knurren und Krächzen von Lebewesen, das wir nie zuvor gehört haben und nicht zuordnen können. Vögel schreien und auch Hunde bellen, was auch unseren Irish Terrier nervös werden lässt. Wir können uns nicht entscheiden, ob wir diese veränderten Tonspuren schön oder beängstigend finden.
Die Gemeinschaft mit Finn ist tröstlich. Er gibt unseren Tagen Struktur und Normalität. Regelmäßige Dorfspaziergänge und Ballspiele auf der Piazza. Bewegung muss sein. Auch wenn es immer die gleichen Wege durch das Dorf sind, auf denen wir außer unseren wenigen Nachbarn niemandem mehr begegnen. Sonst haben wir sie immer mal getroffen, mit ihren Einkäufen vom Supermarkt, mit einer Schubkarre mit Brennholz für den Ofen, beim Plausch auf der Gasse. Jetzt haben wir den öffentlichen Raum für uns. Eine privilegierte Quarantänestation mit Auslauf und Seeblick. Es gibt sehr viele Menschen, die es deutlich schlechter haben.

Christoph Potting, Ronco, Italien
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