Als unser Kater heute morgen wie immer zum Frühstück lautstark auf sich aufmerksam machte, dachte ich bei mir, wie erfrischend doch seine Ahnungslosigkeit ist. Und wie unverschämt: Er ignoriert nicht nur die Krise, sondern auch das »Bleibzuhause«. Munter jagt das Haustier Vögel und Mäuse. Und es hat keine Ängste, obwohl es nicht weiß, dass es immun ist. Was für ein souveränes Geschöpf!
Für uns gibt es Angstbesänftigungsexperten und -expertinnen, die nun täglich auf die Corona-Bühne treten. Ein kluger Ratschlag folgt dem nächsten, wahlweise tiefenpsychologisch, hausgewaltabwehrtechnisch, hygienisch, kulinarisch, gärtnerisch. Es scheint kaum eine verlorene Seele zu existieren, die nicht eingebettet werden könnte.
Nun warnen andere, dass vor lauter neuen Krisen die etablierten verdrängt oder – hoffnungsvoller – einfach verschwinden werden. Oder dass eine neue, postcoronaische Moral die Welt vom Kopf auf die Füße stellen werde. So oder so – es gibt andere Arten von Ängsten, die sich nicht besänftigen lassen, weil sie als solche gar nicht wahrgenommen werden: Ängste für die Katz.
Angst essen Seele auf, der Film von Rainer Werner Fassbinder von 1974, erzählt über das Fremde und den Fremden. Der Kern der Geschichte dreht sich um einen unkontrollierbaren Ablauf, wie äußere Ängste in innere Ängste übergehen und umgekehrt. Zum Schluss tauchen Ängste auf, die keinen erkennbaren Sinn ergeben. Diese sinnlose Angst ist vermutlich die bedrohlichste: die Angst vor der Angst. Und sie produziert nicht nur Krisen, sondern formt die Gesellschaft – oder zumindest Teile davon.
Weil sich die Ingenieure der AKW der Risiken durchaus bewusst waren, haben sie diese immunisiert. Mit Schutzmänteln, unterirdischen Zivilschutzanlagen und der Bedrohung aus dem Kalten Krieg als ideologischer Tarnung: Atombomben können zwar den Eisernen Vorhang durchdringen, aber nicht unseren betonierten Untergrund. Dieser hatte insgeheim eine andere Rechtfertigung: Selbst die Fans der AKW hatten Schiss vor dem GAU, der später bekanntlich eingetreten ist. Allerdings musste in der Schweiz niemand in Bunker abtauchen, wo das »Bleibzuhause« auf 1,5 Quadratmeter Fläche pro Personen und kollektive Trockenklos geschrumpft wäre. Niemand hat sich damals gefragt, ob dieser Mangel an »social distancing« ebenso tödlich gewesen wäre wie das fehlende Distanzgefühl für eine Atombombe.
Die fehlende Angst vor begründeter Angst ist auch unter Extremkletterern verbreitet. Weltrekordhalter Ueli Steck hat ständig nach neuen Grenzen und nach einer immer noch größeren Herausforderung gesucht. Von Kontrollverlust hat er nie gesprochen. Von Risiken schon; sie lauerten aber jenseits seiner selbst. Irgendwann wurde Ueli vom Himalaja verschluckt.
Zwischen der Wahrnehmung vom Risiko und Kontrollverlust verhält es sich wie mit dem Bewussten und dem Unbewussten: Risiken kann man schwer verleugnen, den Kontrollverlust schon. Oder im Volksmund: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Was der Ergänzung bedarf: Was ich nicht wissen will, macht auch nicht heiß.
Ist diese Ignoranz natürlich, menschlich – eine anthropologische Konstante, reine Abenteuerlust? Oder was sonst?
Nun ist bereits das Einkaufen ein Abenteuer. Dem tödlichen Ausgang widerspricht die Tatsache, dass ein Autounfall viel wahrscheinlicher ist. Doch auch Tatsachen haben eine Theorie: In Statistiken verschwinden Gefahren, die begründete Ängste erzeugen: Bei einer Flusstiefe von einem halben Meter können alle ertrinken.
Das Virus hüllt sich in Schweigen. Ein anderes Schweigen trifft für die Hälfte der europäischen Stadtbevölkerung zu; sie wohnt in einem Etui voller Ängste: drohende Kündigung, überteuerte Mieten, die Verbannung in ein Wohngetto. Die meisten Leute schweigen in der Selbstanklage, im Leben versagt und ihre Not selbst verschuldet zu haben. Im soziologischen Fachjargon: kognitive Dissonanz; in unserem Zusammenhang: Die Angst vor der Angst entpolitisiert das Recht auf Wohnen, das in der Verfassung verankert ist.
Für Corona gibt es keine Schuldigen und keine Bestrafung und keine wirkliche Kontrolle, weil man (noch) zu wenig über den unsichtbaren Feind weiß. Beim Wohnen ist das anders – es ist der böse Spekulant.
Tatsächlich? Nun, das war einmal. Das börsenkotierte, globale Immobilienfondssystem hat in den letzten rund zwanzig Jahren den Markt erobert und die Bodenpreise explodieren lassen. Weil dieses Geschäftsmodell inzwischen den Markt dominiert, können sich ihm weder kleine Hausbesitzer noch gemeinnützige Bauträger entziehen. Entweder werden Liegenschaften mit großem Gewinn verkauft oder die Kleinen kopieren die Mietsteigerungen der Großen. Die Gemeinnützigen können nicht mehr wachsen, weil der Boden zu teuer ist.
Der globale Immobilienmarkt ist entpersonalisiert. Die Fonds haben mit künstlicher Intelligenz zu tun, die den Spekulanten zum Knecht macht. Pro Stunde können Liegenschaften und ganze Stadtteile 35-mal verkauft, gekauft, verschuldet werden. Die Hochfrequenzmaschine produziert nichts, und die Maschineneigentümer kennen ihre Immobilien nicht wirklich, geschweige denn die Mieter – die Immobilie existiert abstrakt als bloßer Börsenwert, als eine einzige Zahl, die immer größer werden will. Die Immobilienbewertungen sind weltweit auf 217 Billionen angestiegen und übersteigen heute das gesamte Bruttoninlandprodukt aller Länder der Welt. Ob diese Börsenwerte real oder fiktiv sind, weiß niemand. Sie können auch crashen wie 2008. Zum Deal gehört, dass weltweit etwa ein Drittel des Handels über Geldwäscherei erfolgt, die Immobilien besonders rein säubert. Auch für die Mafia und andere »Tochtergesellschaften« aus Steuerparadiesen.
Es geht also um einen Selbstläufer, der früher oder später out of control ist.
In einer großen Siedlung in New York wurde kürzlich die Miete börsenautomatisch erhöht – diesmal um dreißig Prozent. Den Fondsmanagern ist dabei entgangen, dass den meisten Leuten nun neunzig Prozent ihres Einkommens für die Miete abgezockt würden. Nun hat auch Blackstone, die Eigentümerin und einer der weltweit größten Immobilienverwalter, Angst vor ihrem Realitätsverlust – wenn aus der Wohnungsnot ein Geschäft gemacht wird, weil es von dieser profitiert. Wie lange geht das noch?
Auch die Banken haben Schiss. Wenn Mieterinnen und Mieter ihre Miete nicht bezahlen können, geht das auch den Hypotheken an den Kragen. Deshalb haben die Banken die Vergabekonditionen erheblich verschärft. Der Ex-Nationalbanker Philipp Hildebrand, nun Vizepräsident des weltweit größten Anlagekonzerns Blackrock, kritisiert in Marx-Manier die Performancemaschinerie. Sie sei unproduktiv, rückständig und volkswirtschaftlich schädlich. Das ideologisch unverdächtige Magazin Der Spiegel meint, dass die Enteignungsforderung in Berlin mehr mit Vernunft als mit Kommunismus zu tun hat. Und die Pensionskassen können nicht länger ignorieren, dass ihre Pensionäre mit ihrem eigenen Geld die eigene Miete in die Höhe treiben.
Der globale, deregulierte Immobilienhandel hat in den letzten zwanzig Jahren einen sozialhistorischen Bruch ausgelöst. Mit dem Resultat, dass man sich des Eindrucks kaum erwehren kann, dass Wohnen weniger ein Menschenrecht, sondern eine chronische Volkskrankheit ist. Und wenn die Stadtgesellschaft zur Aktiengesellschaft verkümmert, droht dem Markt die Selbstzerstörung der Beute: der Stadt. Sie ist für immer mehr Leute zu teuer und verödet durch soziale Homogenisierung. Die Übriggebliebenen, die nur noch sich selbst treffen können, tauchen in ein urbanes Stahlbad. Der Immobilienmarkt muss sich also vor sich selbst fürchten.
Ist der globale Immobilienhandel ein Ergebnis künstlicher Intelligenz, die eine Armee vereinigter Ängste aus Mietern, Bankern und Immobilienmanagern hervorgebracht hat – eine unheilige Allianz aus Besänftigungsbedürftigen? Oder hat die Angst vor Veränderungsangst die Grenze erreicht, die Lampedusa in seinem Roman Il Gattopardo erkannt hat, als die bürgerliche Gesellschaft unvermeidbar (ohne Epidemie) die Adelsherrschaft überwand: Wenn alles so bleiben soll, wie es ist, muss sich alles verändern.
Ernst Hubeli, Zürich, Schweiz