Der Kampf einer jungen Haitianerin um ihren eigenen Weg ist zugleich eine Metapher für die Suche der karibischen Bevölkerung nach einer eigenständigen kulturellen Identität.
Roman
Eben noch tanzt sie mit ihrer Mutter zu einem mitreißenden Ragtimestück durchs Wohnzimmer, dann durchdringt sie plötzlich der Rhythmus der Voodootrommeln, bis der Vater sie wütend ohrfeigt: Alice Bienaimé ist die wohlbehütete Tochter einer haitianischen Familie, die sich seit der Sklavenbefreiung 1804 von Generation zu Generation zum Mittelstand hochgearbeitet hat, als Vorbild immer die Kultur und den Gott der Weißen vor Augen. Auch Alice soll dank einer guten Bildung und vielleicht gar einer Heirat mit einem Weißen sozial weiter aufsteigen. Aber die Zeiten ändern sich auch: Nicht mehr alle sind bereit, die eigenen kulturellen Wurzeln zu verleugnen. Trotz Strafen lebt die Kultur der afrikanischen Ahnen, die als Sklaven nach Haiti kamen, im Verborgenen weiter. Auch Alice kann und will sich diesem Einfluss nicht entziehen.
Die haitianische Autorin Yanick Lahens zeichnet ein feinfühliges Bild der heranwachsenden Alice, die im traditionellen Tanz ihre kulturelle Identität findet. Einprägsame Bilder – Rückblenden in die Kindheit und Jugend Alices, aus der Sicht von heute – bringen die alltäglichen Widersprüche eines Volkes, das vom Grenzgang zwischen französischer und afrokaribischer Kultur geprägt ist, zum Ausdruck. Ein subtiler Roman, der die Befindlichkeit einer Nation aufzeigt, die vor 200 Jahren von der Sklaverei befreit wurde und dennoch nicht in Freiheit lebt.
Yanick Lahens, geboren 1953 in Port-au-Prince, ist eine der wichtigsten literarischen Stimmen Haitis. Nach dem Studium der Literaturwissenschaft an der Pariser Sorbonne war sie Dozentin für Literatur an der École Normale Supérieure in Port-au-Prince. Sie publiziert für Radio und Printmedien und engagiert sich in sozialen Projekten insbesondere für die junge Generation ihres Landes.