Geschlossen sei sie ja jetzt, sagt mein Vater. Geschlossen? Wer? Ich war kurz abgelenkt von den Staubflusen, die der Wind durchs Zimmer fegt. Die Schweiz, fügt er an. Ist zu.
Rheinfelden liegt halb in Deutschland, halb in der Schweiz. Mein Vater lebt auf der deutschen Seite. Von seiner Wohnung aus sind es drei Minuten zur Grenze. Einmal aus der Haustür und über die Brücke.
Früher hat er auf der Schweizer Seite gewohnt. Wenn ich ihn besuchte, stieg ich in Basel SBB in die Bahn, am liebsten in den Tuckerzug; beim Schnellzug nach acht Minuten wieder auszusteigen, kam mir immer ein bisschen vergebens vor. Irgendwann würde dann das Feldschlösschenschloss am Fenster auftauchen (ich saß immer auf der richtigen Seite). Mein Vater arbeitete dort als Bierbrauer. Eine Woche Frühschicht, eine Woche Spätschicht, eine Woche Nachtschicht. Und wieder von vorne. Als Teenager lebte ich ein paar Monate bei ihm und bekam den irren Rhythmus mit. Ich wollte in den Sommerferien beim Flaschenabfüllen helfen. Mein Vater sagte, ich würde mir die Hände zerschneiden. Mach es nicht, bat er mich. Ich hab stattdessen Zeitungen ausgetragen.
Was willst du gerade in der Schweiz?, frage ich ihn. Ich weiß, dass er am Wochenende gern einen Ausflug nach Basel macht. Ins Museum. Seine Nespresso-Kapseln auffüllen. Er geht spazieren oder besucht meine Schwester auf ein Stück Kuchen. Als ich noch da gewohnt hab, sind wir oft zusammen Mittagessen gegangen. Immer im gleichen Restaurant, immer das gleiche Gericht. Irgendwann änderten sie die Speisekarte. Gut, beschloss mein Vater tapfer, man soll ja offen bleiben für Neues.
Meine Medikamente, sagt er jetzt. Es rieselt wieder in mein Bewusstsein. Da war dieser Krebs, also Fastgarnichtkrebs, wie mein Vater nicht müde wurde zu betonen. Die Behandlung in Basel. Alles gut gegangen. Aber die Medikamente sind jetzt auf der falschen Seite des Rheins.
Ich werde mal mit diesen Grenzbeamten reden, beschließt er. Und sonst? Und sonst wird mir schon etwas einfallen.
Hast du dich denn mit Sachen eingedeckt, damit du nicht jeden Tag raus musst? Oh ja. Ich war gestern extra noch am Kiosk und hab mir eine Stange Zigaretten geholt.
Mein Vater hat am 14. April Geburtstag. Er wird einundsiebzig Jahre alt. Ruf mich ja nicht an, sagt er stets im letzten Telefonat davor. Und es fällt mir nicht schwer. Ich vergesse andauernd Geburtstage. Ich würde wahrscheinlich sogar meinen eigenen vergessen, wenn es nicht jemanden gäbe, der mich daran erinnert.
Aber dieses Jahr werde ich ihn bestimmt anrufen. Ich sehe diesen 14. April genau vor mir. Ich nehme das Telefon in die Hand. Ich wähle seine Nummer. Er hebt ab und es dauert immer einen Moment, fast so, als müsste er sich jedes Mal von neuem vergewissern, wie ein Telefon überhaupt funktioniert. Yael!, ruft er dann aus. Wie geht es dir?
Yael Inokai, Berlin, Deutschland