Beginnen möchte ich mit der Energie, die im Buch Die Service-public-Revolution von Beat Ringger und Cédric Wermuth steckt. Auch als langgediente «Politprofis», als Intellektuelle, die die strukturellen Zwänge des Kapitalismus, denen wir alle unterworfen sind, durschauen, haben sie sich die Fähigkeit zur Empörung bewahrt. Die mehrfach geäusserte Fassungslosigkeit angesichts der globalen Verhältnisse und der Ignoranz und Gleichgültigkeit der Herrschenden ist etwas, worüber ich zwar ab und an stolpere, das beiden aber als starker Antrieb, als Energiequelle für ihr unermüdliches Engagement dient.
Eine Stärke des Buches besteht sicherlich in dem, was die beiden Autoren als durch und durch politische Menschen ganz generell ausmacht: im konsequenten Blick für Zusammenhänge und das gesellschaftliche Ganze. Die Corona-Pandemie wird folgerichtig nicht auf ein medizinisch-epidemiologisches Phänomen reduziert. Ringger und Wermuth geht es um die gesellschaftlichen Strukturen, die die Ausbreitung der Pandemie ganz wesentlich beeinflussen; den gesellschaftlichen Umgang mit der Pandemie – und die gesellschaftlichen Folgen, die sie zeitigt. Corona passiert nicht im luftleeren Raum, sondern in einer durch den Neoliberalismus versehrten Welt.
Das Virus hat in kurzer Zeit vieles auf den Tisch gebracht, was zuvor vielleicht noch nicht so deutlich im kollektiven Bewusstsein präsent war: Das eklatante Versagen der neoliberalen Ideologie, von Markt und Profitzwang; die heillose Überforderung und Unmenschlichkeit der "starken Männer" à la Trump und Bolsonaro; die immense Bedeutung von Care-Arbeit und starken öffentlichen Infrastrukturen; das Ausmass globaler Vernetzung; oder die Handlungs- und Kooperationsfähigkeit demokratischer Staaten. Darin gründet die Hoffnung auf Veränderung. Corona als Impfung dagegen, dass wir die Zumutungen des Kapitalismus einfach hinnehmen.
Die Philosophin Nancy Fraser unterscheidet zwischen der Vordergrund- und den Hintergrundgeschichten des Kapitalismus (siehe hier). Auf der "offiziellen" Bühne im Vordergrund läuft das ab, was Marx Ausbeutung nannte und sich heute bei uns als "freier" Arbeitsmarkt institutionalisiert hat. Lohnabhängige gehen einen Arbeitsvertrag ein, die UnternehmerInnen resp. KapitalistInnen schöpfen den Mehrwert der geleisteten Arbeit ab. Das ist wohlbekannt und letztlich breit akzeptiert. Gewerkschaften versuchen auf dieser Bühne, Verbesserungen für die Lohnabhängigen herauszuholen. Fraser betont nun aber, dass dies nur ein kleiner Ausschnitt der kapitalistischen Realität sei. Die wirklich hässliche Fratze des Systems zeigt sich hinter den Kulissen, wo durch fortwährende gewaltvolle Enteignungen die Bedingungen hergestellt werden, unter denen "Ausbeutung" überhaupt erst möglich wird. Das Kapitalismustheater funktioniert nur dank (1) der spezifischen Trennung zwischen sozialer Reproduktion und Produktion resp. der damit verbundenen Geschlechterherrschaft; dank (2) der künstlichen Trennung von Gesellschaft und Natur resp. dem damit verbundenen Umgang mit den natürlichen Ressourcen; und (3) dank staatlicher Gewalt, die nicht nur private Eigentumsrechte garantiert sondern auch bis heute imperialistische Züge trägt und über die Zuweisung von sozialem Status u.a. rassistische Unterdrückung strukturell absichert.
In den letzten Jahren konnten wir beobachten, dass sich ein breiteres (Unrechts-)Bewusstsein für diese Hintergrundgeschichten entwickelt (wobei dieses Bewusstsein durch den neoliberalen Kapitalismus auch gleich wieder systemkonform umgewandelt wird: Diversity in Unternehmen, über Werbung und Konsum etc.). Dieser Prozess wurden durch Corona noch verstärkt. Die Antirassismusbewegung (aktuell: Black Lives Matter) reiht sich neben der Klima-, der feministischen Bewegung und der traditionellen Arbeiter*innenbewegung auf. Die – selbstredend nicht neue – Herausforderung besteht nun darin, das Gemeinsame dieser Bewegungen zu reflektieren und zu artikulieren (dazu versucht das Denknetz im Sinne einer Plattform beizutragen), und auch gemeinsam dafür zu kämpfen.
Kann die von Ringger/Wermuth propagierte Service-public-Revolution das oft geforderte und gesuchte "Hegemonieprojekt" sein, das den gemeinsamen Kampf vorwärtsbringt? Für eine Antwort darauf ist es zu früh. Das Potenzial dazu wäre aber durchaus vorhanden: Die Ausweitung der öffentlichen Infrastruktur, die Rückverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, die Perspektive einer globalen Care-Gesellschaft. Daran können alle universalistisch-emanzipatorischen Bewegungen anschliessen, alle sind davon betroffen.
Was Ringger und Wermuth vorlegen, könnte als «progressiv-sozialdemokratische» Programmatik des frühen 21. Jahrhunderts bezeichnet werden. Es ist das Programm einer transformatorischen Politik, die zivilgesellschaftliche Initiative mit institutioneller Politik verbindet. Sie setzt im Hier und Heute an, weist aber über das Bestehende hinaus. Es ist nahe bei dem, was der verstorbene US-Soziologe Erik Olin Wright in seiner jahrzehntelangen Arbeit zu «Realen Utopien» entwickelt hat oder was etwa im Kontext der Rosa-Luxemburg-Stiftung als sozial-ökologische Transformation diskutiert wird. Hierzulande hat vor allem die SP Schweiz (aber auch das Denknetz) in den letzten Jahren unter dem Begriff der "Wirtschaftsdemokratie" bereits ähnliche Debatten angerissen und Vorschläge eingebracht. Bislang leider mit bescheidenem Erfolg. Den Begriff der Wirtschaftsdemokratie sucht man im Buch von Ringger/Wermuth auch vergeblich, das Thema der Mitbestimmung/Partizipation wird eher am Rande behandelt. Wichtig wäre es aber schon. Wie die Autoren selbst treffend schreiben, ist es für einen tatsächlichen Wandel wichtig, dass "andere Arbeits- und Organisationsformen mehr Kraft entwickeln als das kapitalistische Prinzip" (S. 67). Dieses – durchaus anspruchsvolle – demokratische Andere muss von den Menschen erlebt und gelernt werden können. Neben der Schule ist die Arbeitswelt dabei von zentraler Bedeutung.
Vielleicht bringt Corona auch hier einen gewissen Schub. Ein doch unerwarteter Erfolg war etwa die prominente internationale Unterstützung, die ein Aufruf zur Demokratisierung, Dekommodifizierung und nachhaltigen Gestaltung der Arbeit mitten in der Corona-Krise erhalten hat.
Pascal Zwicky, Geschäftsführer Denknetz
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