Seit dem Lockdown wandern mein Mann und ich täglich zwei Stunden. An diesem Morgen geht’s über die Hügel am Rotsee. Dabei sichten wir ein Leichtflugzeug und einen Kleinlader, den größten Lärm machen indes zwei Raben im Streit mit einem Milan. Ein Graureiher flaniert am Bach, Zitronenfalter tanzen im Sonnenlicht. Auf den schmalen Pfaden ziehen immer wieder Joggerinnen und Jogger an uns vorbei, ihr Gekeuche berührt einen mitunter fast unsittlich. In Zeiten des Coronavirus wirkt das Hinterland der Städte wie ein einziges Fitnesscenter.
Gestern hat Do it + Garden zum zweiten Mal die Lieferung der gelben Farbe angekündigt, mit der unsere Tochter das Laufgitter für ihren Erstgeborenen aufgefrischt haben möchte. Aber der Topf steht auch am 12. Tag nach der Online-Bestellung nicht vor der Tür. Im Internet zirkuliert die Fotomontage eines stark gealterten Alain Berset, der frohlockt: »Chers concitoyens, c’est bon, maintenant vous pouvez sortir!« Doch der Bundesrat hat uns in Sachen Covid-19 nie einen Rosengarten versprochen. Passender wäre die Karikatur für die Chefs der Großverteiler. Glaubt man ihnen, sind Scharen von Spezialisten pausenlos daran, den Zustellservice für über 65-Jährige à jour zu bringen. Gut Ding scheint da freilich seine Weile zu haben.
Etwas hat sich nicht geändert. Die Zeit-Artikel, die mein Mann für mich zur Seite legt, lese ich immer noch mit Verzug. Da selbst der kärgliche Rest eines Enkelprogramms – Laufgitter gelb streichen – vorläufig entfällt, nehme ich ein Interview mit Peter Sloterdijk von der Beige. Die Corona-Krise, so Sloterdijk, biete uns ein medientheoretisches Seminar. Dank der Medien lebten wir in Erregungsräumen, die durch wechselnde Themen und einen Schuss Übertreibung gesteuert würden. Bei Corona jedoch würden die Anfangsübertreibungen durch die Geschehnisse eingeholt. Das sei neu, sagt der Philosoph: »Zuerst dachte man, die Medien schreiben die Dinge hoch. Aber nein, heute ist eine nüchterne Beschreibung der Verhältnisse in italienischen, französischen, spanischen Krankenhäusern schlimm genug, um Nachrichtenwert zu haben.«
Mir fällt dazu die Pressekonferenz der Tessiner Regierung vom 24. Februar ein. Zu jener Zeit waren in der Lombardei bereits drei Menschen an Covid-19 gestorben, die Kette der Ansteckungen ließ sich nicht mehr zurückverfolgen. Im Tessin und in der Schweiz gebe es bisher keinen einzigen solchen Fall. Man sei auf der Hut, wolle aber nicht »mit Kanonen auf Spatzen schießen«, lautete der Tenor in Bellinzona. Mailand gehöre einstweilen nicht zur »zona rossa«, ein Nachtessen dort würde er nicht ausschlagen, antwortete Kantonsarzt Giorgio Merlani auf die Frage eines Journalisten. Anderntags hatte das Tessin seinen ersten bestätigten Infizierten, bald zählte man hüben wie drüben die Leichen. Ganz Italien und halb Europa wurde zur »roten Zone«. Im Nu verzeichnete die Schweiz eine der höchsten Pro-Kopf-Infektionsraten. Im Land, das eben noch über die Beschaffung moderner Kampfjets debattiert hatte, zeigte sich ein akuter Mangel an einfachstem Schutzmaterial, an Masken und Desinfektionsmitteln.
Am Montag vor Ostern warnte der Tessiner Kantonsarzt noch einmal eindringlich vor Ferienreisen ins Tessin. Zwei Tage später bestätigte sich der Verdacht, Merlani selbst habe sich mit dem Coronavirus infiziert. »Niemand ist unverletzlich«, teilte er am 9. April aus der Quarantäne mit.
Der Weltinnenraum gleiche inzwischen einer »Riesenpetrischale für mikrobische Experimente«, sagt Sloterdijk. In der Schale kreucht und fleucht es trotz allem heftig. Am Rotsee und anderswo. Den Videos mit den nächtlichen Totentransporten stellte La Repubblica kürzlich das Bild einer Hochzeit in römischen Gewölben voran, ein zuversichtliches Bild.
Marlène Schnieper, Luzern, Schweiz