Dieser programmatische Fokus liegt richtig

Rudolf Strahm in Service-public-Revolution / 15. September 2020 / 0 Kommentare
Dieser programmatische Fokus liegt richtig
Um eine summarische Beurteilung des Buchs Die Service-public-Revolution gleich vorwegzunehmen: Dieses Buch ist lesenswert. Der zweite und dritte Teil ist neu, originell und auf jeden Fall meinungsbildend mit einem frischen Fokus für die Politik der Linken.

Genügt die Analyse?

Ich denke, die erste Hälfte des Buchs (Teil I) lässt sich für belesene Leser ohne Verlust überspringen. Die eher schmalbrüstige Kapitalismus-Analyse ist ein bisschen ein Déjà-Vu und nicht sehr inspirierend. Wie Dutzende von Kapitalismus-Betrachtungen werden längst bekannte Indikatoren zur Klima- und Umweltsituation und zu globalen Ungleichheiten mit einer Datenflut aufgearbeitet. Ich zweifle, ob sie genügen für eine herausfordernde Auseinandersetzung im Diskurs mit der bürgerlichen Doktrin. 

Es fehlt zum Beispiel eine Klärung des Paradox‘, weshalb in der Schweiz im Gegensatz zu andern Ländern die Einkommensverteilung vom 1. bis 9. Dezil (also mit Ausnahme der ganz Reichen) seit Jahrzehnten konstant geblieben ist. Eine Vertiefung müsste mit dem schweizerischen Ausbildungs- und Berufsbildungssystem und den Lohnschutzmassnahmen in Zusammenhang gebracht werden.

Es fehlt meines Erachtens eine Vertiefung des Paradox‘ der Globalisierung und der Frage, weshalb denn die Menschen nationalistischen Parolen folgen. Die tieferen Motive und Identitäten, die bei globalisierungskritischen und migrationskritischen Reflexen im Spiel sind, werden ausgeblendet. 

Mir fehlt auch – wenn schon eine aktualisierte Kapitalismusanalyse angestrebt wird – der Einbezug der digitalen Revolution, der Produktivitätssteigerungen oder auch der neuen Welt der monetären Wirtschaftssteuerung durch die Notenbanken statt durch die Politik. Und auch der Wirkungen der technologischen Revolution und Globalisierung auf den arbeitenden Menschen und die Arbeitskultur der digitalen Generation. Ich denke, solche neueren, über den vulgärmarxistischen Datenkranz hinausweisenden Aspekte der Modernität wären in der Auseinandersetzung mit dem Bürgertum entscheidend.

Service-public-Diskurs wird wichtig

Was der Buchtitel anzeigt, finden wir im zweiten und dritten Teil. »Die Krisenresistenz einer Gesellschaft hängt entscheidend vom Ausbau ihres Service public ab.« So lautet das grundlegende Credo des Buchs. Die argumentative, weltanschauliche und programmatische Fokussierung auf Service public und Infrastrukturpolitik könnte für die zukünftige linke »Politik der Bedürfnisse« zentral werden, zumal alte ideologische Muster (wie etwa Klassenfrage, Herrschaft über Produktionsmittel, Herrschaftskritik) zwar nicht falsch, aber in der Argumentation nicht besonders produktiv sind.

Sinnvoll ist auch die Infragestellung und Kritik des Bruttoinlandprodukts BIP als Wohlstandsindikator und die Vorschläge im Sinne eines „Wellbeing Budgets“ als Ersatz für die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung.

Zumindest argumentativ wertvoll ist auch die weltanschauliche Auseinandersetzung mit den neoliberalen Glaubensdogmen wie etwa: „Der Markt regelt – der Staat bürokratisiert“ oder „Privat ist effizient – der Staat ineffizient“. Ausgerechnet der moderne globale Kapitalismus braucht immer mehr staatliche Krücken und Stützen. Die Erfahrungen der Finanzkrise 2008, der Corona-Episode 2020 und des Totlaufens mancher Freihandelsutopien haben die alten libertären Dogmen arg in Bedrängnis gebracht.

Die im Buch aufgeführten Beispiele von alternativen (meist ausländischen) Service-public-Modellen sind illustrativ, allerdings oft so sehr alternativ, das eine direkte Realisierung in der Schweiz nicht einleuchtet. 

Die politische Bedeutung dieses zweiten und dritten Buchteils sehe ich darin, dass er die Beachtung der Linken verstärkt auf die Frage der öffentlichen Infrastrukturpolitik, der Dienstleistungsinstitutionen und der Care-Ökonomie lenkt. In den 1990er Jahren hatten wir im Zuge der Auflösung der alten PTT zwar eine intensive Debatte um die Unternehmensstruktur von Post und Telecom und der öV-Unternehmen (Verkehrsverbünde). Aber nach den Entscheiden wurde der Status quo lange Zeit tel quel akzeptiert. Jetzt ist es infolge der Corona-Krise Zeit, diese öffentlichen Funktionen neu zu ordnen und zu bewerten. 

Man könnte dem Buch vorwerfen, es bleibe sehr im Programmatischen und führe nicht zu konkreten politischen Projekten. Deshalb möchte ich mit fünf Punkten anregen, was aus dem Programm werden könnte. 

ERSTENS müssten jetzt für einzelne Service-public-Bereiche konkrete Reformprojekte ausgearbeitet werden. Es sollten konkretisierte Modelle aufgestellt werden, die über das Schreibtischkonstrukt hinausreichen. Es sollten Durchsetzungsstrategien skizziert werden. Die Menschen lernen induktiv, ausgehend vom Einzelnen und Konkreten. In der linken Parlamentsfraktion bräuchte es eine entsprechende Aufgaben- und Auftragszuteilung zur Konkretisierung und Durchsetzung.

ZWEITENS müssen finanzpolitische Steuerungsmodelle und überhaupt Finanzierungsanforderungen geklärt werden, dies besonders bei der Steuerung im Energiebereich, in der Ressourcenbewirtschaftung, beim Verkehr, im Gesundheitswesen. Der repetitive Killer-Vorwurf gegen linke Modelle besteht ja darin: Die Linken fordern alles und sagen nie, wer zahlt. 

DRITTENS müssen die Anforderungen der zukünftigen Systemgestaltung an die Bildungs- und Berufsbildungspolitik konkretisiert werden. Die Buchautoren umschiffen die zentrale Frage der Entwicklung des „Human Factor“. Gerade im Care-Bereich (Spitäler, Heime, Kitas), den sie ausgiebig fördern wollen, sind Personalmangel, Ausbildungsdefizite das dringendste Mangelproblem – wichtiger sogar als die Finanzen. Ähnliches erfahren wir im öV- und Sicherheitsbereich (jüngst: fehlende Lokführer). Ich denke, die Personalausbildungsfrage steht in der Priorität sogar vor den Finanzierungsaspekten.

VIERTENS braucht das Service-public-Lobbying eine kritische Auseinandersetzung mit den neoliberalen Einflussversuchen der EU (besonders des EuGH und ebenso des WTO-Freihandelsregimes) gegen den öffentlich-rechtlichen Dienstleistungssektor. Auch dazu schweigen die Buchautoren. Wenn öffentliche und private Dienstleistungsanbieter in Konkurrenz stehen, zerschlägt der EuGH unter den Killerphrasen von „Wettbewerbsverzerrung“ und „Beihilfenverbot“ die öffentlichen Dienstleister. Dies ist augenfällig zum Beispiel bei der Steuerung des Transitschwerverkehrs, der Energieproduktion und neu sogar beim subventionierten Wohnungsbau.

FÜNFTENS müsste der Service-public-Sektor konzeptionell mit dem Sektor der Sozialversicherungen verknüpft werden. Die Interdependenz zwischen Sozialleistungen und Service-public-Nutzung sollte gerade für die Linke zu einem zentralen Thema gemacht werden. Dazu ist noch viel konzeptionelle Arbeit zu leisten.

Bei all diesen Konzeptionsmängeln – die Thematik und das Revival der öffentlichen und sozialen Dienstleistungen ist mit diesem Buch verdienstvoll fokussiert. Ich denke, mit der Service-public-Debatte lassen sich Vertrauen und Akzeptanz bei jenen linken und linksliberalen Schichten gewinnen, die mit traditionell-sozialistischer Rhetorik nicht mehr ansprechbar sind. Denn Service public knüpft bei den existenziellen Bedürfnisse der Menschen an. 

Ich denke, das Buch Die Service-public-Revolution kann, auch wenn der Titel etwas hochtrabend daher kommt, die Service-public-Debatte zu einem produktiven Kampfthema machen. Die sozialdemokratische Linke sollte dieses Territorium besetzen.

Rudolf Strahm ist ehemaliger Zentralsekretär SPS, ehemaliger Nationalrat, Alt-Preisüberwacher

www.rudolfstrahm.ch

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