Ein Tag wie jeder andere

Guido Magnaguagno in VierzigTageBuch / 06. April 2020
Ein Tag wie jeder andere

Frühling, eigentlich. Der Himmel himmelblau ohne Ende, dazu wolkenlos. Woche 4 der Ausnahmeregelungen. Das ist auch eine neue Erfahrung, wie ein Tag dem anderen gleicht. Trotzdem keine Langeweile. Verändert hat sich neben der Raumbeschränkung auch das Zeitempfinden. Der letzte Monat fühlt sich wie drei an. Sind es ausgefüllte oder nur angespannte Tage?
Jeder Tag beginnt mit dem Rundkurs im nahen Bullingerhof. Um die Ecke winkt das Café du Bonheur. 45 zeitlose riesige Platanen mit zaghaftem Grün rahmen die große Spielwiese ohne Spieler ein. Zwei Birken. Zwei neue regelmäßige Bekannte: eine ältere füllige Türkin (?) mit Kopftuch und Mundschutz und eine kleine, behende Indio, beide mit immer streng auf die Bahn gesenktem Blick, was mich irritiert. Vereinzelt Handy mit Hund und Handy mit Kind. Nur freche Raben und dumme Tauben stören den frühmorgendlichen Frieden.
Der Tag setzt sich nach dem Frühstück fort mit der Süddeutschen, täglich bei Anny K. am Anny-Klawa-Plätzchen, Hommage an eine Kämpferin für die Gleichberechtigung, bestellt. Mit den neuen Fallzahlen von SFR 4, Dlf, Johns Hopkins und dem Blick in die Republik das trügerische Gefühl, auf dem Laufenden zu sein. Das Wissenschaftsmagazin berichtete detailliert über die Luftverbesserung, wie das Atmen auf der Intensivstation überwacht wird, über einen Urwald unter der Antarktis und dass Äpfel gegen Birkenpollen helfen. Dies ein Lichtblick.
Als Ü65 und mit Tuberkulose-Lunge muss ich aufs geliebte Einkaufen bei »Zio« verzichten, denke aber viel zu früh ans Kochen. Manchmal denke ich an den Garten im Tessin und dass mir allzu viele Frühlinge nicht mehr vergönnt sein werden. Ein Freund erschreckt mich mit der Prognose eines »Gerontozids«. So sehr unser guter Staat und die Wissenschaft Vertrauen schaffen, so sehr beunruhigt die Dominanz der Wirtschaft über die Gesundheit. Erstaunlich, dass ausgerechnet der reichste Mensch der Welt mahnt, die Wirtschaft sei nie verloren, ein Menschenleben aber schon. Das Revival des belächelten Worts »Solidarität« freut, die pandemischen Populisten machen noch mehr Angst.
Die privilegierte Selbstisolation hingegen befördert einen utopischen Gedankenschub: Wie wäre es anstelle von »Hinauffahren des Systems« mit einer weltweiten Aussetzung der Börsen und einer ewigen Geld-Quarantäne? Und dafür mit Tauschhandel, wie in Leontica im Val Blenio, vorgelebt von Felice im Buch von Fabio Andina. Zu den essenziellen Privilegien gehört Lektüre: Nach Eugen Ruges Bericht über die malträtierten vermeintlichen Trotzkisten in Moskaus Hotel Metropol 1936/37 – um von der Gegenwart abzulenken – erhole ich mich jetzt mit der Feinen New Yorker Farngesellschaft des Neurologen Oliver Sacks. Und träume von Farnwäldern unter der Antarktis.
Die Realität kehrt spätestens um 18 Uhr zurück. Da berichtet der italienische Zivilschutz über den Stand der Lage und schafft täglich zwischenmenschliche Nähe und Betroffenheit. Die zur selben Zeit im Rotpunkt-Blog erscheinenden Tagebuchbeiträge der VerlagsautorInnen zeugen von Verbundenheit und kulturellem Überleben, und die Fallzahlen beziehen sich aufs Crowdfunding. Die Kunst schält sich wieder aus der Umklammerung der Betriebsamkeit.
So neigt sich der Tag auf der Dachterrasse seinem Ende zu. Hier oben hebt sich der Unterschied zwischen freiwilliger und erzwungener Isolation etwas auf. Und wenn dann noch die tägliche Amsel auf der vereinsamten Bohnenstange singt und die ersten Mauersegler kreisen, weht ein Hauch von Freiheit am makellosen, unversehrten Himmel.
Beim Einschlafen rätsle ich, ob die Tessiner Glyzinien schon blühen. Und ab zu den eisgekühlten Farnwäldern.

Guido Magnaguagno, Zürich, Schweiz
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