Eine soziale Wende ist möglich

Ueli Mäder in Service-public-Revolution / 26. August 2020 / 0 Kommentare
Eine soziale Wende ist möglich
Beat Ringger, gelernter Elektrotechniker, arbeitete einst zehn Jahre als System Engineer bei IBM. Er antwortet nun mit Historiker und Politologe Cédric Wermuth auf aktuelle Krisen. Die beiden tun dies, wie in ihrem früheren Marx-Band, fundiert und engagiert. Sie wollen die Welt verstehen und verändern. Ihr Buch über die Service-public-Revolution begründet eine globale Care-Gesellschaft. 

»Die prägende, gesellschaftliche und ökonomische Dynamik muss, von der gewinnorientierten, von Grosskonzernen dominierten Privatwirtschaft hin zum gemeinwohlorientierten Service public wechseln«, so lautet die zentrale Botschaft. Sie ist gut begründet und überzeugt. Die politisch erfahrenen Autoren verknüpfen Theorie und Praxis. Beat Ringger, geb. 1955, war Zentralsekretär des VPOD und bis 2020 Geschäftsleiter des Denknetzes. Cédric Wermuth, geb. 1986, präsidierte die Jungsozialist*innen und ist seit 2011 Nationalrat. 

Die Finanz-, Umwelt- und Corona-Krise werfen »ein Licht auf die groteske Ungleichheit«. Ringger und Wermuth fragen nach Ursachen und Auswegen. Sie postulieren »eine lebendige Kultur der Selbstverwaltung«. Und einen globalen Service public, der öffentliche Dienste und gesellschaftliche Bereiche stärkt, die sich der Konkurrenz- und Gewinnlogik entziehen. Ich greife, arg verkürzt, ein paar Aspekte auf. 

Was hinter den Krisen steckt

Wir übersäuern die Meere, verbrennen fossile Energien, heizen mit Treibhausgasen die Temperaturen auf und steigern unseren (Luxus-)Konsum. Zehn Prozent Reiche verursachen die Hälfte aller CO2-Emissionen. Die Umweltschäden gefährden das Überleben und verschärfen soziale Konflikte. Sie zwingen Benachteiligte zu migrieren und erhöhen das Gerangel um knappe Ressourcen: vom Öl zum Wasser. Wer mächtig ist, kann egoistische Interessen besser durchsetzen. So vertieft sich die Kluft zwischen Arm und Reich, global und regional. 

Europäische Länder kolonisierten zwei Drittel der Erde. Sie beuteten Rohstoffe aus, beförderten so die eigene Industrialisierung und dominieren heute den Welthandel mit. Während die Preise für industrielle Produkte steigen, sinken tendenziell jene für Rohstoffe. Arme Länder erhalten heute für höhere Exporte weniger Erlös als vor fünfzig Jahren. Das neokoloniale „Erfolgsmodell« begünstigt die Privilegierten. Und ein finanzgetriebenes Verständnis überlagert seit den 1980er-Jahren das politisch liberale. Eine angelsächsisch geprägte, neoliberale Politik forciert die Konkurrenz. Und das Kapital drängt offensiver dorthin, wo es sich maximal verwertet. Genug ist nie genug. Alles muss kurzfristig rentieren. Das treibt Menschen auseinander. Wirtschaftliches Wachstum zählt und ökonomisiert auch unseren Alltag. Zeit ist Geld. Je schneller, desto besser. Corona stellt diesen kapitalistischen Geist infrage. 

Alles rasch hochzufahren, ist zwar eine Option. Sie betrachtet unsere Gesellschaft als Maschine, die  permanent die Effizienz optimiert. Das mechanische Menschenbild orientiert sich am vordergründig Nützlichen. Materielle Anreize sollen den Wohlstand ankurbeln. Das zählt, in einer eng geführten »Zweck-Normalität«. Aber so verkommen soziale Wesen zu Waren.  

Soziale Perspektiven 

Corona eröffnet auch soziale Perspektiven. Die Krise zeigt, wie wichtig einfache Handreichungen sind. Unabhängig davon, ob sie als »systemrelevant« gelten. Unsere Gesellschaft lebt von Menschen, die sich trotz allem sozial verhalten. Damit ihre Anstrengungen zum Tragen kommen, sind allerdings soziale Dienste und Einrichtungen nötig. Zudem ein kategorischer Imperativ, der uns dazu anhält, ökologische und ökonomische Ressourcen so zu nutzen, damit sie sich regenerieren. 

Technologische Innovationen können Umweltschäden vermindern, sie sind aber beschränkt wirksam. Probleme lassen sich nicht mit ähnlichen Mitteln bewältigen, die sie verursachen. Strukturelle Alternativen sind gefragt. Wirtschaftlich gilt es, den Welthandel möglichst gerecht zum Vorteil aller zu nutzen. Der Abbau von Rohstoffen ist mengenmässig zu stabilisieren und preislich zu indexieren. Garantierte Abnahmen verbessern die Lage der Produzierenden. Sie vermindern den Raubbau und die Spekulation. Die UNO strebt das längst an. Darüber hinaus sind demokratische Verfahren auf allen Ebenen durchzusetzen. Ebenso die Grund- und Menschenrechte. Sie unterstützen soziale Sicherheiten und persönliche Freiheiten für alle.  

Beat Ringger und Cédric Wermuth setzen sich für eine soziale Wende ein. Ihre gründliche Analyse stimmt fassungslos und hoffnungsvoll. Sie enthüllt beispielsweise, wie viel Wohlstand die Schweiz dem Ausland verdankt. So nimmt unser Ausstoss an Kohlendioxid zwar minimal ab; aber wir verbrauchen mehr im Ausland. Wer das verdrängt, betont gerne, wie sich alles verbessert. Obwohl sich das »Weltbürgertum aus der Verantwortung« stiehlt und Reiche »zu reich geworden« sind.    

Faktenreich argumentieren die Autoren auch gegen die angebliche »Renaissance staatlicher Bevormundung« (NZZ vom 28.3.2020): Nur 28 Prozent der Angestellten von Bund, Kantonen und Gemeinden gehören zur Verwaltung. Die übrigen arbeiten in Schulen, Kindergärten und im Gesundheitswesen. Viele staatliche Organe sind zudem Milizbehörden. Tabuisiert ist indes die »neoliberale Bürokratie«. Privatisierung führt oft zu mehr Regulierung. Ringger und Wermuth decken gängige »Effizienzlügen« auf und postulieren eine Corona-Klima-Steuer. Dauerhafte Krisenresistenz erfordert überdies eine globale Service-public-Revolution. Mit fairer Kooperation, Non-Profit-Organisationen, öffentlichen Unternehmen, sozialer Ökonomie und mehr Demokratie. Fallbeispiele dokumentieren konkrete Ansätze. Neue soziale Bewegungen und Netzwerke wollen die Welt beleben und gerechter gestalten. Beat Ringger und Cédric Wermuth tragen mit ihrem handlichen und gehaltvollen Buch eindrücklich dazu bei. Fazit: Eine soziale Wende ist möglich. Hoffentlich. 

Ueli Mäder, Soziologe

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