Service-Public? Ja. Revolution?

Jonas Kampus in Service-public-Revolution / 31. August 2020 / 2 Kommentare
Service-Public? Ja. Revolution?
Beat Ringger und Cédric Wermuth beginnen ihr Buch gleich mit einer Abhandlung über die grossen Themen unserer Zeit: Corona-Krise, Klimakrise, Care-Krise, Umverteilung von Süd nach Nord und von unten nach oben. Diese Analyse liefert eine detaillierte Skizze der heutigen Situation. Die vorgeschlagenen Massnahmen ähneln jener anderer kürzlich erschienenen Umstrukturierungspläne, andere sind den Texten des Denknetzes entnommen, was mit Beat Ringger als ehemaliger Geschäftsleiter der Denkfabrik und oftmaliger Autor ebenjener Texte nicht überrascht. Wermuth und Ringger packen die Leser*innenschaft mit ihrem optimistischen Schreibstil, die Krisen werden als Chancen gesehen, endlich den lang herbeigesehnten Wandel einzuleiten. 

Während der Service public in den letzten Jahren unter bürgerlichem Dauerbeschuss stand, sollte dieser nun massiv ausgeweitet und aufgewertet werden. Statt den Sozialabbau in Bildung, Gesundheit und öffentlichem Verkehr voranzutreiben, soll der Staat zahlreiche neue Aufgaben in Bereichen wie dem Klimaschutz, der Telekommunikation oder dem Finanzwesen übernehmen. Was dabei auffällt, ist das Ausbleiben einer Diskussion über die Mitbestimmung im Service public. Zahlreiche Wirtschaftsbereiche würden zwar teilweise oder ganz der direkten Kontrolle durch die besitzende Klasse entzogen werden, doch fehlt eine Auseinandersetzung darüber, welche Rolle der Staat und welche die Gesellschaft innehaben. An der Grundannahme, dass unser heutiger Staat demokratisch aufgebaut ist, wird nicht gross gerüttelt. Doch auch gerade die halbdirekte Schweizer Demokratie ist geprägt von einem riesigen Demokratiedefizit. Die abstimmende Bevölkerung, welche nur gerade ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmacht, hat nur alle vier Jahre die Möglichkeit, Repräsentant*innen zu wählen. Auch das Instrument der Initiative und des Referendums ermöglichen nur eine begrenzte Möglichkeit, auf die politischen Prozesse Einfluss zu nehmen. Gerade die Abbaumassnahmen im Service public waren fast unmöglich ausserhalb des Parlaments zu bekämpfen. Die Kontrolle über diesen ausgebauten Service public sollte also weiterhin dem Staat obliegen, welcher seit der Gründung des Schweizer Bundesstaates fest in bürgerlicher Hand und der besitzenden Klasse ist. Dabei könnte dieser neue Service public mehr dem Prinzip der Allmende entsprechen, der gemeinsamen, basisdemokratischen Verwaltung durch die Menschen vor Ort, denn nur weil der Staat über jene Güter bestimmt, bedeutet dies noch lange nicht, dass er im Interesse der Gesundheit der Menschen oder klimagerecht handelt. Als der Betrieb der Trans Mountain Pipeline nicht mehr rentabel war, kaufte sie der kanadische Staat kurzerhand auf und erweitert sie zurzeit sogar. 

Generell steht dieses Buch stellvertretend für die Perspektivlosigkeit und das Ausbleiben einer klaren Strategie der Linken. Der optimistische Grundton kann nicht über die Resignation und die tiefe Krise in der Linken hinwegtäuschen. Ringger und Wermuth versuchen gar nicht erst die Frage des Privateigentums in seiner Gesamtheit aufzuwerfen, obwohl sie doch eigentlich absolut zentral ist, wenn es um die Umstrukturierung ganzer Wirtschaftszweige geht. Konsequent gegen das Privateigentum schreiben sie nur in einem Aspekt an: Im Buch wird eine Bereitstellung aller Dächer für die Stromproduktion mithilfe von Solarpanels gefordert. Dies ist ein Einschnitt ins Recht auf Privateigentum, welcher die herrschende Klasse wohl vertragen könnte, liegen die meisten Dächer heutzutage doch gänzlich brach. Zwar sehen sie den motorisierten Individualverkehr kritisch, möchten diesen auch stark zurückbinden und in die Peripherie verbannen, ganz mit diesem zu brechen, getrauen sie sich aber nicht. Das Auto verursacht nicht nur in den Innenstädten Probleme, sondern nimmt besonders auch in der Agglomeration und in ländlichen Gebieten als Privateigentum einen grossen Teil des öffentlichen Raumes ein, welcher für alle anderen Menschen zur tödlichen Zone wird. Entgegen den meisten Verkehrsplänen der Linken plädiere ich für einen gänzliche Ersatz des MIV durch ein flächendeckendes öffentliches Transportsystem. Dieses könnte in alpinen, ländlichen Regionen aus selbstfahrenden, elektrobetriebenen Postautos bestehen. Die Post führt in Sitten bereits ein solches Testprojekt durch.

Die Frage stellt sich, was Ringger und Wermuth genau mit diesem Buch bezwecken möchten. Stellen sie sich wirklich so eine andere Welt vor? Glauben sie, dass jene vorgeschlagenen Massnahmen der Care- und Klimakrise effektiv entgegenwirken? Was dem Buch fehlt, ist der Mut, die Revolution nicht nur in den Titel zu schreiben, sondern auch im Inhalt zu vollziehen. Mögen die Autoren in die «Realitätspolitik» der bestehenden Institutionen noch so fest eingelullt sein, so zweifle ich nicht an deren Glauben an eine andere Welt, welche weit über die vorgeschlagenen Massnahmen hinausgeht. Die multiplen Krisen verlangen keine realitätsfernen Änderungen des bestehenden Systems, sondern ein gegenhegemoniales Projekt, welche sich an der Lebensrealität der Weltbevölkerung orientiert, wie es die Analyse auch macht. Doch wie würde jenes Projekt aussehen? Die Gesellschaft und die sozialen Bewegungen dürfen nicht mehr länger als passive Gruppen wahrgenommen werden, welche von Zeit zu Zeit ihre Meinung zu aktuellen Themen abgeben dürfen und progressiven Stimmen in den Parlamenten zum Erfolg verhelfen, sondern als zentrale Akteur*innen des Wandels, der Revolution. Die vorgeschlagenen Massnahmen stellen dabei einen ersten Schritt dar, wir brauchen lokale Klimawerkstätten, ein anderes Bankwesen, doch dürfen diese nicht das finale Ziel sein. Statt Service public durch den Staat braucht es Commons in jedem Lebensbereich, welche direkt durch die betroffenen Menschen verwaltet werden. Doch diese Ideen sind nichtig, wenn wir keinen Plan zur Erreichung unserer realistischen Utopie haben. Der Frauen- und der Klimastreik zeigen Ansätze auf, wie der Weg dahin aussehen könnte. Mit dem Aufbau lokaler Kollektive, welche eigenständig, aber koordiniert agieren, schaffen sie die Grundlage für eine wahre demokratische Gesellschaftsstruktur, welche auf alle Lebensbereiche ausgeweitet werden kann. Diese macht auch das Prinzip eines Service für die Allgemeinheit obsolet, wenn die Menschen die Kontrolle über alle Aspekte des Lebens haben.  

Fordern wir nicht ein grösseres Stück des Kuchens, sondern nehmen wir uns die ganze Bäckerei. Machen wir sie zugänglich für alle Menschen, setzen wir Solarpanels auf ihr Dach und stellen wir die Rezepte als Creative Commons digital zur Verfügung und schenken uns gegenseitig Brötchen, weil man das so macht in der Care-Gesellschaft.

Jonas Kampus ist Klimaaktivist und nimmt in Kürze ein Wirtschaftsstudium auf.

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Lieber Jonas, als ich ungefähr so alt war wie du jetzt, gingen wir auf die Strasse mit diesem Slogan: "Macht aus dem Staat Gurkensalat!". Das ist kein besonders intelligenter Slogan, aber er zeigt doch, wie staatskritisch die 68er Linke und ihre unmittelbaren Nachfahr*innen (zu denen ich gehöre), dem Staat gegenüber eingestellt waren. Vor allem in den 90er Jahren, als nach dem Fall der Mauer und damit der Systemkonkurrenz die "neoliberale Globalisierung" um sich griff, hat sich diese Einstellung mit guten Gründen gewandelt. Heute will ein grosser Teil der Linken und wollen sogar viele Feministinnen "mehr Staat" (logisch: eher Mutter als Vater Staat), das heisst vor allem: mehr Regulierung des Kapitals, mehr sozialstaatlichen Ausgleich und "taxes taxes taxes, all the rest ist bullshit" (Rutger Bregmann). Du erkennst diese Einstellung auch bei Cedric und Beat und attestiert ihrem Buch eine gewisse Blindheit gegenüber dem "riesigen Demokratiedefizit" sogar in den staatlichen Strukturen der vermeintlichen Musterdemokratie Schweiz. Und damit hast du Recht. Es stimmt: Wieso sollten wir demselben Staat, der in den zurückliegenden drei Jahrzehnten allem Widerstand zum Trotz massiv zum Abbau des Service public beigetragen hat, plötzlich zutrauen, dass er die "liberalisierte"(?) Infrastruktur wieder unter seine Kontrolle bringt und sie uns Bürgerinnen und Bürgern zuliebe wieder auf-, sogar noch massiv ausbaut? Müssen die Energien für diesen Wandel nicht von anderswoher kommen? Aus der Tradition der Allmende, von den "Menschen vor Ort", den "sozialen Bewegungen"? Ich stimme dir zu. Dieser Aspekt fehlt im Buch zwar nicht ganz, aber er ist unterbelichtet. Was mir zu deinem Wunsch nach einer basisdemokratischen Commons-Struktur des Gemeinwohls aber auch einfällt, sind zahllose ermüdende Erfahrungen von kreativen Initiativen der "Menschen vor Ort" – vom interkulturellen Begegnungshaus bis zur Regionalwährung, vom Gemeinschaftsgarten bis zur Zeitbörse –, die daran gescheitert sind und ständig weiter scheitern, dass die neoliberal gestressten Leute einfach keine Kapazitäten haben, um zu realisieren, was sie sich wünschen. Und zu dieser Erfahrung des permanenten Scheiterns wiederum fällt mir ein Modell des Zusammenspiels von bürgerinnenschaftlichem Engagement und staatlichem Support ein, das zur Zeit vor allem in den USA diskutiert wird (Pavlina Tcherneva, Stephanie Kelton, AOC u.a.): Die "Job Guarantee". Sie sieht eine staatliche Einkommensgarantie vor für zukunftsweisende Tätigkeiten, deren Inhalt auf lokaler Ebene basisdemokratisch bestimmt wird. Konkret: Wir entscheiden in einem Komitee in Wattwil, dass wir Personen brauchen, die eine Caring Community oder einen Gemeinschaftsgarten aufbauen, wir suchen geeignete Personen mit freien Kapazitäten dafür, und der existenzsichernde Lohn für diese lokal kreierten Jobs kommt aus Bern! Und zwar so garantiert wie die AHV! Wie findest du diese Kombi-Idee? Commoning vor Ort mit garantierter (Anschub-)Finanzierung vom geldschöpfungsberechtigten Staat? Oder gar, vielleicht noch besser: ein bedingungsloses Grundeinkommen? Also staatlich garantierte Existenzsicherung für die freie, lokal organisierte Entfaltung der globalen klimafreundliche Care-Gesellschaft? Geld dafür gäbe es genug, jedenfalls in der Schweiz, denn die Schweizer Franken werden in Bern gemacht.

Die Service Public Revolution – ein Plädoyer ohne Handlungsbedarf Auch nach dem Lesen von 207 gutgemeinten Seiten ist keine Revolution zu erkennen. Der Grundgedanke der beiden Autoren, den Service public zu fördern, ist beinahe so alt wie die Einsicht, dass wir uns dringend mit Gesundheits-, Umwelt-, Klima- und anderen länderübergreifenden Bedrohungen beschäftigen müssen. Anstelle eines revolutionären Aufrufs mit definierten Zielen und konkreten Anweisungen, was jedermann/jedefrau für das Umsetzen im persönlichen Leben für diese Strategie tun kann, verliert sich der Text in einem Sammelsurium zwischen Corona, Klima und Kapitalismus. Am Anfang des Buches wird dem Leser erklärt, wie schlimm es um unsere Welt bestellt ist. Feindbilder, wie die Reichen, die Mächtigen, die herrschende Elite, Marktwirtschaft und Gewinnorientierung, werden wiedergeweckt und seien à priori zu verwerfen. Dieses DENK(Netz) Muster aus den 80er Jahren überzeugt nicht und wir kennen das schon aus den früher erschienenen Büchern wie Reclaim Democracy oder System Change. Das Team Ringger/Wermuth schreibt aber absolut richtig, dass wir alle von der destruktiven Profitlogik Abschied nehmen müssen. Nur eben, und da ist sie wieder die unangenehme Frage: Wie? Und da vermisse ich konkrete, wenn auch unangenehme Vorschläge, wie wir z.B. den Service public effektiv «revolutionieren». Denn mit Worten ist keine Schlacht zu schlagen. Da im Buch kein wirklicher Lösungsweg aus den verschiedenen Dilemmas zu erkennen ist, mache ist selbst einen: 1. Weg von der Mentalität «die Anderen». Für Revolution und Kritik bei sich selbst beginnen. 2. Einen tragenden Dialog und Zusammenarbeit mit Verantwortlichen suchen und aufbauen. Das DENKNETZ denkt nicht alleine auf diesem Planeten. 3. Grosse Probleme in kleine zergliedern. Aus den vielen öffentlichen Dienstleistungen 2-3 Sektoren definieren und dort ein detailliertes Arbeitskonzept festlegen (z.B. Mobilität, Post, Telekommunikation). Besser diese wenigen erfolgreich umsetzen, als nur darüber zu sprechen. 4. Die Bevölkerung und Medien in die Herausforderung einbeziehen, denn es geht ja um eine Veränderung der öffentlichen Dienste (Veranstaltungen, Bürgerinitiativen, Strassenkampagnen, etc.). Auf Seite 203 ist zu lesen, dass sich auf der Welt Gremien etabliert haben, die über keine demokratische Legitimation verfügen. Und wo ist hier das Problem? Unsere Welt ruft weder nach demokratischen, republikanischen, kommunistischen noch irgendwelchen anderen politischen Systemen. Was wir suchen, ist ein verbindliches Ordnungssystem. Dazu brauchen wir 10 % global Verantwortliche, welche die anderen 90 % leben und nicht hungern lassen. Am Schluss eures Buches steht auf Seite 206, dass es global um die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums geht. Nicht nur, global sind auch natürliche Ressourcen und Allmende Güter einzubeziehen. «Schwache» oder «Starke» können gemeinsam Krisen überwinden, aber nur durch aktives Handeln. C. Rohland


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