Service public, Res Publica und die Lehren der Geschichte

Josef Lang in Service-public-Revolution / 26. August 2020 / 0 Kommentare
Service public, Res Publica und die Lehren der Geschichte
Bei der Lektüre der »Service-public-Revolution« kam mir häufig ein Buch in den Sinn, das 1917/18 vier Auflagen erlebte: »Die neue Schweiz« von Leonhard Ragaz. Auf dem Höhepunkt einer Krisenzeit suchte der Religiös-Sozialist eine Alternative zur wirtschaftlichen »Herrschaft des Stärkeren« und zu einem »Staatsabsolutismus«, der in Krieg und Vollmachten gegipfelt hat. Er fand sie bei den Genossenschaften, »wo jedes Glied der wirtschaftlichen Gemeinschaft grundsätzlich die gleichen Rechte und Pflichten«. Als haupttragende Kräfte für den System-Wechsel betrachtete der aus dem Bündner Freisinn stammende Pfarrer den demokratischen Republikanismus und einen freiheitlichen Sozialismus, wie er in der Rätebewegung zum Ausdruck kam. Ragaz‘ Beharren auf einer Wende verband sich mit der Sorge um einen zivilisatorischen Rückfall, sollte jene ausbleiben.

Republik und Mündigkeit

Beat Ringger und Cédric Wermuth haben ihr inhaltsstarkes Werk ebenfalls auf dem Höhepunkt einer Krisenzeit verfasst: Klima-, Corona-, Wirtschaftskrise. Und auch sie schlagen nicht nur eine Alternative zum Marktfundamentalismus, sondern auch zum Staatsbürokratismus vor. Allerdings ist die heutige Ausgangslage eine andere. Ragaz verfasste sein Buch vor dem Hintergrund einer Vergiftung der Köpfe und Seelen durch Militarismus und Autoritarismus. Ringger und Wermuth schrieben es angesichts einer jahrzehntelangen Hegemonie des Neoliberalismus. Deshalb dekonstruieren sie das »Zerrbild des Staates« und die Unfehlbarkeit des Marktes und verweisen auf »ein Drittes«: die 150‘000 bis 200‘000 Vereine, die weder zum Markt noch zum Staat gehören. 

Die aktuelle Diskussion über Staatlichkeit ähnelt mehr derjenigen aus der Gründerzeit des Bundesstaates als derjenigen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Jeremias Gotthelf, einer der Hauptsprecher des historischen Antietatismus, lehnte den Staat gerade deshalb ab, weil er den Menschen half, sich aus einer unverschuldeten Unmündigkeit zu befreien. Er sah im liberalen Staat eine gefährliche Konkurrenz für »Familie und Glauben«. Die Verrechtlichung des öffentlichen und privaten Lebens verurteilte er als »legale Sanktion der Selbstsucht«. Damit meinte er die persönlichen Rechtsansprüche, die Arme und andere Benachteiligte gegenüber traditionellen Autoritäten autonomer machte. Die späteren Auseinandersetzungen um die Sozialversicherungen, die Menschen in Not vor Elend und Paternalismus schützten, sind eine Fortsetzung dieser Debatten. 

Gegen das System Escher - für den Service public

Nach der Gründung des Bundesstaates kam es in den 1860er und 1870er Jahren zur ersten Grossdebatte um das, was wir heute Service public nennen. Dabei kamen drei Bewegungen mit ihren besonderen Sensibilitäten zusammen: Die Demokraten führten einen Doppelkampf für die Volksrechte sowie die Grundlage deren Ausübung: die materielle Existenz. Ihr Hauptfeind war die »Geldaristokratie«, das System Escher. Die Radikalen verteidigten die Autonomie der Republik gegen die kirchlichen Einflüsse im Zivilrecht oder im Schulwesen. Sie wehrten sich aber auch gegen die Macht der »Eisenbahnbarone« und die Willkür in den Kantonen. Ihre Hauptanliegen waren eine säkulare und unentgeltliche Schule, die Verstaatlichung der Bahnen und die Gleichberechtigung der Neuzuzüger in den Gemeinden und Kantonen. Die Grütlianer, die unter der Führung von Demokraten radikaler geworden waren, engagierten sich insbesondere für den Arbeiterschutz. 

Alle drei Kräfte waren gegen das Ständemehr beim Gesetzesreferendum und für die Stärkung des Bundes gegenüber Kirchen, Kantonen und Wirtschaft. Die neue Bundesverfassung von 1874 war europäisch die fortschrittlichste, auch weil sie den Service public zugunsten der Res Publica massiv gestärkt hatte.

Nach Rückschlägen in den 1880er Jahren kam es vor dem Ersten Weltkrieg zu einem nächsten Service-public-Schub. Unter der Ägide eines »staatssozialistischen« Bundesrats wurden 1902 die Eisenbahnen verstaatlicht, 1907 die Nationalbank und 1912 die SUVA geschaffen. Ohne den Aufschwung der Arbeiterbewegung hätte sich der sozialpolitische aufgeschlossene Bundesrat gegen die konservativen und wirtschaftsliberalen Kräfte nicht durchsetzen können.

AHV und GAV dank linker Morgenröte

In den von Rechtsfreisinnigen und Konservativen dominierten drei Jahrzehnten zwischen 1914 und 1944 gibt es nur wenige Fortschritte. Im Rahmen der linken Morgenröte zwischen 1944 und 1948 und unter dem Eindruck starker Streikbewegungen in den Chemie-, Textil- und Bausektoren kam es zum Abschluss vieler neuer Gesamtarbeitsverträge und zur Schaffung der AHV 1947. Neue Wirtschaftsartikel legalisierten die staatliche Konjunkturpolitik, aber auch den Einfluss der Verbände.

In den kommenden Jahrzehnten der Hochkonjunktur gab es aufgrund wachsender Sachzwänge einen Ausbau von Infrastrukturen. Die wichtigsten Erfolge im Sinne des Service public waren die Gründung der Invalidenversicherung 1960, der Ausbau der AHV und die Einführung des Mieterschutzes 1970. Allerdings erfuhr die AHV eine längerfristige Schwächung durch die Stärkung der Zweiten Säule ab 1972. Ihre weitaus wichtigste Stärkung erfuhr die Res Publica durch die Einführung des Frauenstimmrechts am 7. Februar 1971.

Der Aufstieg des Neoliberalismus ab den 1980er und der SVP ab 1992 setzte den Service public in die Defensive. Allerdings gab es starke Regressionen nur dort, wo Teile der Linken mitmachten. Das war insbesondere beim New Public Management der Fall. Das NPM führte zu einem Abbau der demokratischen Kontrolle und zu einer teils kafkaesken Rebürokratisierung des Staates durch unzählige Controlling- und Evaluationsinstanzen. Das Bedenklichste beim NPM ist die Entwürdigung des demokratischen Citoyen zum konsumierenden Kunden.

Frauen-Power und Care-Allianz

Die Klima- und Frauenbewegung haben dank ihrer Synergie letztes Jahr eine Wende geschaffen, die weit über das Elektorale hinausgeht. Die Corona-Krise hat die Care-Sensibilität und das Service-public-Bewusstsein massiv gesteigert. Gestärkt wurde auch der Protagonismus der Frauen, die Hauptträgerinnen der Gesundheits-, Betreuungs- und Bildungssektoren der Gesellschaft. Es besteht die historische Chance eines Bündnisses von Frauen-Power, Klimajugend, Gewerkschaftsbewegung, Linksparteien. Das in einer Situation, in der der Neoliberalismus und der Nationalkonservativismus geschwächt sind. Wenn sich die Care-Allianz bildet und diese energisch und schnell handelt, verwandeln wir die konjunkturelle in eine strukturelle Wende. Beat Ringgers und Cédric Wermuths Buch gibt dafür wertvolle Orientierungshilfe:  die Service-public-Revolution!

Josef Lang, Historiker, Alt-Nationalrat, thematisiert in seinem Buch »Demokratie in der Schweiz« die Pandemie unter dem Titel »Corona und Republica« 
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