Eine der sechzig literarischen Miniaturen in »Morgengrauengewässer« trägt den Titel »Zauber« und hat mir die berühmten Zeilen von Joseph von Eichendorff in Erinnerung gerufen: »Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst Du nur das Zauberwort.«
Die Epoche der Romantik ist längst vorbei, nicht aber die Zauberkraft der Worte. Das beweisen Azizullah Ima und Andreas Neeser in »Morgengrauengewässer« auf eindrückliche Wiese. Anfänglich sind es oft Klagelieder, die sie anstimmen, denn Azizullah Ima ist ein Exilautor und hat seine traumatische Flucht aus Afghanistan nur knapp überlebt. Der Kontrast zur unbelasteten Biografie von Andreas Neeser, dem Lyriker und Romanautor aus dem Aargau, könnte also nicht grösser sein. Aus dieser Spannung heraus gelingt es den beiden Schriftstellern, die sich im Rahmen des Literaturprojekts »Weiter Schreiben Schweiz« kennenlernten, meisterhaft, in einen west-östlichen Dialog zu treten. Sie hören einander genau zu, und jeder vertraut auf die eigenen literarischen Mittel, um authentisch zu bleiben. So entwickelt sich ein Wechselgesang, in dem neben Schmerz und Widerstand immer deutlicher auch Trost, Liebe und Versöhnung anklingen.
»Herzensbeine«, »Seelenflügel« oder »Lippenblumen« sind drei der vielen Zauberwörter, die in »Morgengrauengewässer« verborgen sind. Was gibt es Schöneres, als sie für sich zu entdecken oder anderen zu schenken.