Weiter wie bisher: Nach COVID-19 keine Option!

Regula Rytz in Service-public-Revolution / 28. August 2020 / 0 Kommentare
Weiter wie bisher: Nach COVID-19 keine Option!
»Wenn das Haus eines Grossen zusammenbricht, werden viele Kleine erschlagen.« Nichts beschreibt die Folgen der Finanzkrise 2007/2008 präziser als der alte Text von Bertolt Brecht. Das Platzen der Spekulations-Blasen riss Millionen von Menschen weltweit ins Elend. Die aktuelle COVID-19-Krise tut es auch. Aber sie wurde nicht von einer gierigen Finanzindustrie mit perversen Risikomodellen ausgelöst. Und sie ist auch von der Wirkung her nach einem anderem Muster gestrickt. Als erstes hat COVID-19 die Hütten der » Kleinen« zum Absturz gebracht. Die der margenschwachen KMU und Tieflöhner*innen, der ungesicherten Selbständigen, Freelancer, Kulturschaffenden, der alleinerziehenden Frauen. Wie stark sich COVID-19 auf die Paläste der »Grossen« auswirken wird, ist heute offen. Die üppigen Dividendenausschüttungen von Firmen wie Sulzer oder Schindler mitten im Lockdown lassen vermuten, dass viele Kapitalbesitzer ihre Schäfchen noch ins Trockene bringen wollten, bevor die Weiden verdorren. Gleichzeitig sahnen Krisengewinner kräftig ab. Beat Ringger und Cédric Wermuth zeigen in ihrem Buch Die Service-public-Revolution die Dimensionen auf. So sind die Vermögen der 25 reichsten Milliardär*innen der Welt in nur zwei Lockdown-Monaten um 255 Milliarden US-Dollar angewachsen. Die Menschen in den »systemrelevanten« Berufen dagegen blieben auf ihren Tieflöhnen sitzen. Und die im informellen Sektor standen vor dem Nichts.

Eigentlich ist es zu früh, um eine Bilanz der COVID-Krise zu ziehen. Wir stecken mittendrin. Was sie mit den einzelnen Menschen und mit unserer Gesellschaft machen wird, hängt von den politischen Langfrist-Antworten ab. Werden wir in den alten Mustern der Ungleichheit und der Naturzerstörung steckenbleiben und es bei ein paar temporären Hilfspaketen bewenden lassen? Oder gelingt jetzt, in diesem »Epochenbruch«, der Neustart in eine nachhaltigere, gerechtere Zukunft? Ringger/Wermuth setzen – so wie die GRÜNEN mit ihrem »Green New Deal« – engagiert auf den Wandel. Und sie zeigen an konkreten Beispielen auf, wohin dieser führen soll: In eine Ausweitung der demokratisch kontrollierten öffentlichen Grundversorgung. In die Reform des Gesundheitswesens und der Alterspolitik. In die Stärkung der Care-Arbeit und der öffentlichen Kinderbetreuung. In eine Beschleunigung der Energiewende und die Gründung einer Klimabank. Und vieles mehr.
 
Die Service public-Revolution ist ein Plädoyer für den Aufbruch. Es ist aber keine Anleitung zum Systembruch, wie der Titel suggeriert. Revolutionen werden gemeinhin als schnelle und radikale Veränderungen der gegebenen gesellschaftlichen Ordnung definiert. Davon sind die Vorschläge von Ringger/Wermuth weit entfernt. Ihre Reformen bewegen sich innerhalb des bestehenden politisch-rechtlichen Rahmens. Und sie stützen sich stark auf die Arbeiten des »Denknetzes« ab, das als Think-Tank der demokratischen Linken seit vielen Jahren Vorschläge für die ökosoziale Transformation entwickelt. So zum Beispiel der Vorschlag, den Generika-Bereich von Novartis für einen symbolischen Betrag an den Bund zu verkaufen und zum Grundpfeiler einer öffentlich kontrollierten, gemeinwohlorientierten Pharmaindustrie zu machen (http://www.denknetz.ch/pharmafuersvolk/). 
 
Die Service-public-Revolution ist in diesem Sinne eine Reformagenda, welche die grünroten Debatten der letzten Jahre mit dem akuten Handlungsbedarf der COVID-19-Krise verknüpft. Dass dabei der Service public im Zentrum steht, ist logisch. Denn sowohl die globale Finanzkrise 2007/2008 als auch die Corona-Pandemie haben (einmal mehr) gezeigt, dass die über profitorientierte Märkte gesteuerte Verteilung von Gütern und Dienstleistungen die soziale Ungleichheit und die Instabilität fördert. In beiden Krisen konnten deshalb nur massive Staatsinterventionen den Kollaps der sozialen Netze und der Volkswirtschaft verhindern. In beiden Krisen wurden zudem die Schwachstellen der immer arbeitsteiligeren, profit- und effizienzgetriebenen, naturzerstörenden Verschwendungswirtschaft ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit geholt. 

Es ist deshalb absolut folgerichtig, dass Ringger/Wermuth mit ihrer Service public-Revolution den Bereich unserer Gesellschaft ausbauen wollen, der nicht der Logik der Konkurrenz und der Gewinn­orientierung unterworfen ist und deshalb nicht in die Taschen privater »Shareholder« arbeitet, sondern Sicherheit, Wohlstand und Chancengleichheit für alle schaffen kann. Zu leistbaren Preisen und mit maximaler Zugänglichkeit[1]. Selbstverständlich kann man den Katalog der von Ringger/Wermuth vorgeschlagenen Massnahmen auch erweitern. Es fehlt aus grüner Sicht zum Beispiel die Grund- und Weiterbildung, die Kultur oder die Land- und Ernährungswirtschaft als öffentliches Gut. Darüber hinaus brauchen wir eine vertiefte Diskussion darüber, welche Bereiche der »Daseinsvorsorge« direkt über staatliche Institutionen erbracht werden. Und wo private Organisationen demokratisch kontrollierte Leistungsaufträge umsetzen oder durch gesetzliche Regulierungen gesteuert sind. 
 
So oder so entscheiden die gesellschaftlichen Machtverhältnisse darüber, ob demokratische Regulierungen oder öffentliche Institutionen im Sinne des Gemeinwohls wirken. Auch die «Vergesellschaftung» einer Dienstleistung ist noch keine Garantie für ihre Zukunftstauglichkeit. Dies zeigt sich eindrücklich an der Geschichte von staatlich kontrollierten Energiekonzernen wie der Axpo oder der BKW Energie AG. Im Gegensatz zu privaten Cleantech-Unternehmen haben sie die grüne Energiewende jahrzehntelang blockiert und Innovation verhindert. Eine Service-public-Revolution muss deshalb zwingend mit »good governance« verbunden sein, also einer demokratisch gesteuerten, transparenten, kompetenten und gemeinwohlorientierten Verwaltung der öffentlichen Dienstleistungen. Dies ist auch im Gesundheitsbereich entscheidend.  
 
Die wichtigste, über die Service public-Revolution hinausreichende Zukunftsdiskussion (die immer auch die internationale Solidarität integrieren muss) ist aber die zu Wohlstand ohne Wachstum. Ringger/Wermuth kritisieren zu Recht die einseitige Fixierung der heutigen Wohlstandsindikatoren auf monetäre Werte. Denn damit fällt die Gesamtheit aller ökonomischen Tätigkeiten unter den Tisch, die auf nicht bezahlter Arbeit beruhen, insbesondere die Care-Arbeit. Hier setzt auch der Ökonom Tim Jackson an. Er schrieb 2009 im Auftrag der britischen Regierung einen – letztlich verschmähten – Bericht über Wachstum und Nachhaltigkeit. Unter anderem auf seinen Analysen baut das Konzept der »Grünen Wirtschaft« auf, das die GRÜNEN 2016 mit einer Volksinitiative an die Urne brachten. 
 
Eine sozial gerechte Kreislaufwirtschaft im Rahmen der natürlichen Belastungsgrenzen – dieses Ziel ist mitten in der COVID-19-Krise aktueller denn je. Im Rahmen eines Green New Deal-Konzeptes arbeiten die GRÜNEN heute an einer ökosozialen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft. Investitionen in nachhaltige Technologien und öffentliche Güter, in nicht-materielle Dienstleistungen, in die Stärkung der Care-Arbeit durch eine Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit, in neue soziale Sicherungssysteme – das sind die Reformen, die unsere Zukunft krisenfester und gerechter machen sollen. Selbstverständlich erfordert die Dynamik einer langsameren, arbeitsintensiveren Care-Ökonomie auch eine Reform der Finanzlandschaft. Investitionen sollen nicht mehr in Rohstoffaus­beutung und das Wachstum der Arbeitsproduktivität fliessen, sondern in den Service public und die Energie- und Ressourceneffizienz. 
 
Die COVID-19-Krise wird die Gesellschaft und Wirtschaft viel stärker erschüttern, als es der schuldenabbaugetriebene Blick der rechten Parteien und Wirtschaftsverbände heute wahrhaben will. Es ist deshalb Zeit, die Reformdiskussionen der ökosozialen Bewegungen und Parteien zusammenzuführen und ihnen mehr Wirkung zu geben. Service public-Revolution und Green New Deal – für eine Zukunft mit Zukunft!
 
Regula Rytz, Nationalrätin und ehem. Präsidentin der GRÜNEN Schweiz


[1] Siehe auch meinen Artikel «War Karl Marx ein ‘Grüner avant la lettre’? in: Cédric Wermuth, Beat Ringger (Hrsg.), MarxnoMarx, Juni 2018.
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