Woran merkt man im Wedding, dass der Frühling beginnt? Nicht an der Apfelblüte, sondern daran, dass sich die Fenster öffnen und grausiger Gangsta-Rap die Hinterhöfe beschallt. Und was hat das nun mit diesem Coronavirus zu tun? Gar nichts. Und das ist gut so. Solange der Gangsta-Gewalt-ist-geil-Rap seine alljährlichen Blüten treibt, ist Berlin noch nicht völlig aus den Fugen geraten.
Doch auf den Straßen gleicht Berlin einer Geisterstadt: Wo sonst die Kinder auf den Spielplätzen toben, die Jugendlichen auf den Bolzplätzen kicken und die Alten geschwätzig Domino spielen und Baklava naschen, wo sonst die Poser mit ihren geleasten SUVs prahlen und die Bonvivants lustwandeln – alles leer gefegt.
Ich bin leicht beunruhigt, weil im Supermarkt sogar der Kahlúa ausverkauft ist. »The Dude abides«, jetzt erst recht. Bei meinem Stamm-Späti frage ich, ob wenigstens die Tabakversorgung sichergestellt ist. Ja, die Lager sind voll. Ich bin beruhigt. Ich bin beunruhigt, als ich zurück in die Wohnung und ins Internet gehe: Tote, Infizierte, grausam nüchterne Exponentialfunktionen. Ich bin beunruhigt darüber, wie sehr dieses Virus dem Menschen gleicht: Beide zerstören ihre Lebensgrundlage, die Viren die Menschen – und die Menschen die Erde. Momentan bekämpfen wir das Virus. Aber werden wir jemals unseren inneren Dämon besiegen, oder enden wir irgendwann als gescheiterte Spezies? Ich tagträume darüber, dass die Menschheit nicht nur beim Virus Himmel und Hölle in Bewegung setzt, sondern auch, um die Klimakrise, das Artensterben und das Leid geflüchteter Menschen zu stoppen. Wird aus der Asche des Virus ein Phönix emporsteigen – oder heißt es einmal mehr: business as usual?
Meine Gedanken driften ab und werden so wirr wie dieser spontane Tagebucheintrag. Da ohnehin all meine Lektoratsaufträge und Buchlesungen abgesagt wurden, versuche ich, mich abzulenken: Schließe den Corona-Liveticker des Guardian, den ich tagtäglich geradezu inhaliere. Schreibe an einem neuen Comic-Script und verliere mich in Fantasiewelten. Streame auf Netflix »I Am Not Okay With This« und denke: ich auch nicht. Spaziere durch den Park und beobachte nistende Spatzen. Spiele draußen Frisbee und putze drinnen mir völlig unbekannte Winkel meiner Wohnung.
Da sitzen wir also alle vereinzelt und zwangsentschleunigt in unserer Quarantäne. Eine Statistik bringt mich zum Schmunzeln: Während die Deutschen Klopapier und die Amerikaner Munition hamstern, decken sich die Holländer mit Cannabis ein und die Franzosen mit Rotwein und Kondomen. Und da schießt mir ganz fatalistisch durch den Kopf: Ja, lasst uns irgendwie das Beste draus machen und diese Scheiße ein klitzekleinbisschen vergolden. Ich spüre, dass dieser Frühling ein trauriger sein wird. Mir schaudert vor dem, was ist und was noch kommen mag. Werden wir trotz allem auch mal lachen können? Wir müssen uns Sisyphos … äh … Wir müssen uns Gangsta-Rap als gute Musik vorstellen.
Patrick Spät, Berlin, Deutschland