Maria Schneider 1946–2022

Ursula Bauer in Zu Fuß / 20. March 2022
Maria Schneider 1946–2022
»Nachts, wenn die Glühwürmchen durch den Garten tanzen, 
der Mond über steile Bergflanken hochgekrochen kommt, 
wenn die Nebel silberne Schleier weben ... ja eben ... 
Ob’s im Paradies so ist, wissen wir nicht.« 
 

Liebe Maria, jetzt weißt du es. Und sagst nichts, nie mehr. Das zu begreifen, fällt schwer.
 
Vor genau dreißig Jahren sind wir uns zum ersten Mal begegnet, in eurem Centro Culturale Borgata San Martino. Du warst eine »Beizerin« wie aus dem Bilderbuch, eine rheinländische Frohnatur, eine Kölnerin mit lockerem Mundwerk und recht dezidiertem Auftreten. Zu Anfang waren wir uns eher fremd. Aber San Martino, ein Häuflein Häuser auf einer sonnigen Hangterrasse, zwei, drei davon stilvoll restauriert, das gefiel mir sehr. Und was du in deiner kleinen Küche angerichtet hast, erst recht.
Nie hättest du dir träumen lassen, erzähltest du später, dass du mal deiner großen Liebe (einem deiner ehemaligen Studenten) wegen in einem abgelegenen Bergtal im Piemont landen würdest. Und es war Andreas Herzenswunsch, nicht deiner, auf einem Maiensäss hoch über dem Tal leben zu wollen. Abenteuern wart ihr beide in euren früheren Leben nie abgeneigt gewesen. Kam ein weiteres dazu, war das gut. Dieser Vermutung hast du nie heftig widersprochen. Der Neuanfang in San Martino war auch ganz nach deinem Gusto – eine Plackerei, aber eine lustvolle, eine mit Hand und Fuß und Freundschaften, die ein Leben lang hielten.
Die Percorsi Occitani, der Mairaweg, waren Anfang der neunziger Jahre offiziell eröffnet worden. Eine Initiative dreier Männer aus dem Tal, die mit sanftem Tourismus Arbeitsplätze für das von der Abwanderung stark betroffene Valle Maira bringen sollte. Das Gerüst bildete eine vierzehntägige Rundwanderung durch die spektakuläre Berglandschaft. Die Posti Tappa – eure Borgata gehörte auch dazu – entlang der Route waren lokale Familienbetriebe, und die Köchinnen wussten sehr wohl, dass ein angenehm gefüllter Bauch glücklich macht. Das Projekt hatte drei Väter, einer davon war der deutsche Zuwanderer, Andrea, so geht die offizielle Version. De facto wart ihr zu viert; du warst selbstverständlich mitgemeint, oder so. Wer dich kennt, weiß, dass »mitgemeint« eine krasse Untertreibung war.
Jürg und ich erlagen schon nach der ersten Stippvisite in San Martino und den ersten Wandertagen dem widerspenstigen, etwas schwermütigen Charme des Mairatals. Wir kamen wieder. San Martino wurde unser Angelpunkt, unser Türöffner. Eure Begeisterung und eure Hoffnung, mit den P. O. neue Perspektiven für ein Leben in den Alpen aufzuzeigen, das imponierte uns sehr.
Euer Netzwerk war groß, ihr wusstet es zu nutzen. Doch, aller Schalmeienklänge in den deutschsprachigen Medien zum Trotz, der Mairaweg fand in der Wandergemeinde jenseits der Alpen wenig Echo. Vielleicht würde eine kleine Broschüre ein bisschen nachhelfen. Ihr warft den Köder aus, und wir schluckten ihn, nach einigem Zögern. Wir hatten eigentlich andere Pläne, aber etwas Kleines, das würden wir wohl schaffen, um der guten Sache willen. Der Rotpunktverlag nahm das Vorhaben wohlwollend zur Kenntnis und wartete geduldig ab. »Wess das Herz voll ist, dess läuft die Schreibe über«, will heißen: Euer »Patenkind« wurde dick und dicker. Als 1999 Antipasti und alte Wege erschien, war’s ein Pfundskerl, ein Schmöker, 299 Seiten dick. Und, oh Wunder, der Funke sprang endlich über.
Es war ein bisschen wie im Märchen. Und Märchen dauern nicht ewig. 2004 starb Andrea. Aus der bekannten Marke »Schneider San Martino« wurde Knall auf Fall »Maria«. – Eine Frau alleine? Kann sie das? Wohl eher nicht, spekulierte man, auch im Tal. Oh ja, sie konnte. Der Preis war hoch. Der Alltag als Gastgeberin und weitherum bekannte Köchin, zeitweise auch als Präsidentin der Associazione Percorsi Occitani, hielt dich auf Trab. Deine Sorgen hast du, wenn es dir nötig schien, hinter einer katzenhaften Kratzbürstigkeit gut versteckt.
Die Borgata in San Martino ist über die Jahre zu einem blühenden Gartenparadies geworden. Ein großes, helles Restaurant hat die kleine, gemütliche Küche aus den Anfangszeiten abgelöst. Das Luftige, das Verspielte, die offenen Räume, das trägt deinen Stempel.
Und du bist eine engagierte Türöffnerin und Kulturvermittlerin geblieben. Wir profitierten ausgiebig von deinem »Insiderwissen«, deiner Gastfreundschaft und Unterstützung. Was auch dem Rotpunktverlag einiges brachte, denn regelmäßig alle paar Jahre kam es zu einer neuen Auflage der Antipasti. Neun sind es inzwischen geworden.
Die Percorsi Occitani sind zu einem eigentlichen Geflecht von Wegen angewachsen, und die Zahl der Unterkünfte im Tal hat sich mehr als verdoppelt. Das hat seinen Preis. Der Höhenflug zeigt, in überschaubarem Rahmen zugegeben, auch seine Tücken. Das Consorzio Valle Maira schreibt Marketing zeitgemäß mit Großbuchstaben. Das hat dir nicht nur gefallen. Sanfter Tourismus sah für dich ein bisschen anders aus, vor allem gemeinschaftlicher im Umgang miteinander.
»Mit Siebzig werde ich mich pensionieren«, sagtest du. Glauben tat dir kaum jemand. Aber es war dir ziemlich ernst damit. Schritt für Schritt hast du dich aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen, hast die Winter in Indien verbracht und im Sommer auch mal die Seele baumeln lassen, Künstlerinnen und Fotografen zu Ausstellungen in den Räumen der Borgata eingeladen, Wandergruppen beraten. Deine Altersgelassenheit war kein lammfrommes Ruhen, natürlich nicht.
Die Diagnose Amyothrophe Lateralsklerose (ALS) schuf neue, harte Tatsachen. Das Verdikt hast du als Herausforderung gesehen, hast deine Selbständigkeit mit kreativen Tricks und einer hilfreichen Umgebung lange bewahren können, auch dann noch, als deine Glieder immer weniger mitspielen wollten. Begeistert hast du mir noch im November 2021 von deinen Ausfahrten mit dem neuen Elektrorollstuhl im ersten Winterschnee erzählt, vom Picknick in der Sonne. Geblieben bis zum Schluss ist dir dein trockener Humor, deine Lebenslust, die genießerische Freude an gutem Essen, guten Weinen und guten Gesprächen – dein unangestrengtes Mitfühlen und Mitdenken machten eigentlich alle Gespräche gut. »Tengo salotto« (ich halte Hof) sagtest du lachend, wenn du in deiner Stube in deinem Fauteuil empfingst.

Das Centro Culturale Borgata San Martino wird bleiben, wie und was es ist. Dafür hast du gesorgt. Und da, wo du dir dein Paradies auf Erden, dein endgültiges Zuhause, geschaffen hast, wird gewiss auch deine Seele bleiben. 

Das Foto ist nur noch Erinnerung; beide seid ihr jetzt nicht mehr da. Aber ich gucke euch gerne zu, wie damals, als das Bild entstanden ist.
 
Ursula Bauer

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Ein schöner Nachruf, eine schöne Erinnerung an diese vielschichtige, besondere, starke Frau. Wir haben Maria kennen gelernt und diesen paradiesischen Platz geliebt dank Ihres wunderbaren Buches "Antipasti...


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