Eigentlich wollte ich, in Woche 2 des Lockdowns, über die »neuartigen« Begriffe schreiben, die man aktuell in jeder Radiomeldung hört.
Das Wort Flickenteppich – die Kritik am unkoordinierten Handeln der Kantone – hat bereits an Häufigkeit verloren; dass sich in so kurzer Zeit die zwanzig Vollkantone und die sechs Halbkantone dem Diktat des Bundesstaates unterworfen haben, ist untrügliches Zeichen für die herrschende »außerordentliche Lage«. Im helvetischen Föderalismus lautet normalerweise der Grundsatz: Das ist von Kanton zu Kanton verschieden.
Seit Montag grassiert Ruhe bewahren. Die in den ersten Tagen des Lockdowns medial als Ereignis beschriebene Stille der Stadt scheint sich einem Wendepunkt zu nähern: Der anfängliche Thrill der stillen Stadt macht die Menschen unruhig, die Polizei bereitet sich vor auf zunehmende Gewalt, die Psychiatrie auf zunehmende Verzweiflung, bei den Kleingewerblern greift Hoffnungslosigkeit um sich. Wenn schon in Woche 2 »Ruhe bewahren« ausgerufen wird – bekannt aus den Alarmanweisungen an der Hotelzimmertür –, auf was für Anweisungen müssen wir uns in drei, vier Monaten gefasst machen?
Der Bundesrat und der immer müdere Daniel Koch legen uns täglich die neusten Maßnahmen dar. Nicht nur sie, weltweit nehmen Regierungen Maß an der Epidemie-Entwicklung und leiten daraus mit wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen Begründungen Anordnungen ab. Ein Virus – kein Lebewesen, nur eine »dem Leben nahestehende organische Struktur« – setzt den Maßstab, der global Wirtschaft und öffentliches Leben auf den Kopf stellt. Einst wurde so etwas nur Gott zugeschrieben.
Solidarität ist in aller Munde. Vierzig Jahre nach Start des neoliberalen Siegeszugs, der »Gutmenschen« verlacht und die Ich-AG propagiert, sprießen seit letzter Woche überall im Land Solidaritätsprojekte – wie Kirschblüten in der Frühlingssonne. Intellektuelle, Politikerinnen, Verbandsvertreter loben und preisen die breite Welle von Solidarität. Nur der Präsident des Hauseigentümerverbands beruft sich auf die Rechtslage, die auch in der bundesrätlich anerkannten außerordentlichen Lage keine Mietsenkungen vorsieht.
Bis dahin habe ich heute geschrieben, was ich bis gestern wollte. Nachdem aber in der Tagesschau eindringlich dazu aufgerufen worden war, haben meine Frau und ich den heutigen Vormittag damit verbracht, endlich unsere Patientenverfügungen zu verfassen. Gemäß Formular haben wir uns schriftlich geäußert zu: »Meine Einstellung zum Leben«, »Meine Einstellung zu Krankheit, Sterben und Tod«. Zwei Stunden später habe ich die Nachricht erhalten, dass die Polizei soeben einen einstigen WG-Mitbewohner, der seit Jahren völlig zurückgezogen lebte, tot in seiner Wohnung gefunden hat, seit Wochen tot, einsam gestorben. Er hat nichts mehr mitbekommen vom schwindenden Flickenteppich, vom Appell, Ruhe zu bewahren, von den einschneidenden Maßnahmen, von der Wiederentdeckung der Solidarität, von all diesen wichtigen Dingen, wie wir in dieser »außerordentlichen Lage« das Leben zu schützen versuchen. Der Tod kommt wie der Dieb in der Nacht.
Hannes Lindenmeyer, Zürich, Schweiz
In Erinnerung an meinen Freund André