Von Amseln, schlafenden Drachen – und Schnecken

Ursula Bauer in Zu Fuß / 13. July 2023
Von Amseln, schlafenden Drachen – und Schnecken
Einsiedeln – Friherrenberg – Chälen – Grosser Runs – Gross (Postbus nach Einsiedeln)
2.30–3 Std., Ausflug Grosser Runs 1–2 Std.
LK 1:25 000, 1132/1152

Der Grosse Runs

Der Wandertag beginnt ganz friedlich auf dem prächtigen Klosterplatz von Einsiedeln. Durch den Klosterhof bummeln wir zum heiligen Benedikt hoch. Der blickt nicht nur auf die eindrückliche Klosteranlage hinunter, wenn er ein bisschen schielt, sieht er, etwas zurückversetzt unterm Chlosterwald, das Holzlager und die Sägerei des Klosters. Die Benediktinerabtei ist mit 933 Hektar Wald der größte private Waldbesitzer in der Schweiz. Und hat 2011 für naturnahes und nachhaltiges Bewirtschaften den Waldpreis der Binding-Stiftung erhalten, mit 200 000 Franken Preisgeld ist er der höchstdotierte Umweltpreis der Schweiz. So.
 
Den Wegweisern folgend, geht’s den besagten Wald hoch zur Alphütte auf dem Friherrenberg. Es ist ein feuchter, verhangener Tag. Silbergrau liegt der obere Sihlsee unter uns. Das Bergpanorama dahinter lässt sich zwischen Wolkenbänken vage erahnen. Der Rest ist grün, Wiesengrün, Waldgrün. Gelangweilt stehen ein paar Rinder um die Alphütte herum.
 
Wir tauchen südwärts wieder in den Wald ein, über den Friherrenberg und den Wäniberg geht’s nach Chälen. Über Wurzelgeflecht, weichen Waldboden, auch mal ein Stück auf frisch gekiestem Wanderweg de luxe; ab und zu winkt eine Holzbank, ein Grillplatz mit Aussicht. Vor allem geht’s rauf und runter und rauf und runter. Biker schnaufen, ihre Bikes geschultert, hoch oder holpern unter Geklingel runter, Läufer spurten ausgesprochen sportlich vorbei. Bei schönerem Wetter ist am Friherrenberg vermutlich Stau angesagt. Bei Chälen treffen wir auf die kleine Passstraße, die Einsiedeln mit dem Außenquartier Gross am Sihlsee verbindet. Eine weite, grüne, auch moorige Zwischenebene über dem See tut sich auf. Nach einer knappen Viertelstunde auf der Straße, vorbei an Gartenzwergen und Schweizer Fahnen, zweigen wir nach rechts ab, gehen an einem abseitsstehenden Haus vorbei und schwenken nach links auf einen Wiesenweg ein, der hinunter zur gedeckten Holzbrücke am Grossbach führt. Als ob in all dem Grün um etwas Abwechslung gebeten worden wäre, plumpst ein roter Gleitschirm nebenan in eine gemähte Wiese, eine ziemlich punktgenaue Landung – dies zur Ehrenrettung des Piloten. Kein Flugwetter heute. 
 
Breitbrüstig, in einer langen Kaskade von Schwellen, rauscht der Grossbach talauswärts. Auf einem asphaltierten Sträßchen gehen wir auf der rechten Bachseite aufwärts, über Ijenschatten bis Unter Tries (ein kleiner Parkplatz und eine Schutzhütte). Hier zieht die Straße hangaufwärts weg, und eine Schotterstraße führt in den Grossen Runs hinein. Amselthal hat das kleine Tal unterm Amselspitz, unter Amselspitzwald, Amselspitzloch und Amslengschwänd früher geheißen. Fertig gezwitschert. Grosser Runs ist angemessen, von oben gesehen ein Schlund unter dem Gschwändstock, eine eindrückliche Steinwüste. Von unten besehen erst recht.
 
Noch gibt sich der Grossbach handzahm, fingert in das weite Kiesbett eines Geschiebesammlers aus, und der massive Rückhalterechen scheint nichts als ein hübscher Tanz massiger Pfeiler zu sein. Dann wird das Tobel enger, zwängt das Wasser zwischen große Felsbrocken, Geschiebe fließt aus den steilen Hängen zu. Und unvermittelt öffnet sich das Tal zu einer Wüstenei, einem Drunter und Drüber von Stein und Schwemmholz, durchzogen von Wasserläufen. Die Werkstraße endet auf einer Aufschüttung, die gegen das Wasser hin mit großen Steinblöcken gesichert ist. Eine vollgeladene Lore steht zum Abtransport bereit, ein Pickel, eine Schaufel, eine gelbe Weste liegen daneben, klein, wie vergessenes Kinderspielzeug. Ein Fußweg führt weiter, bricht allerdings bald ab, weggespült die kleine Furt, die Steinmännchen, die den Weg durchs Geröll in den erlenbesetzten, sanften Geländerücken des Blackenrieds wiesen. Und in die Heitlenen, dahin, wo die vielen Bachfurchen aus den steilen Hängen zusammenlaufen. Und man kann sich gut vorstellen, wie’s tönt, wenn sich in einem Unwetter der Wasserdrache zu regen beginnt, mit dem Schwanz um sich schlägt, die Wasser aus ihren Furchen zusammenpeitscht und das Tal hinuntergrollt und -brüllt. Dass der Herr Schwitter im Schneeregen den Hang runtergeschlittert kommt, auch das wundert nur mäßig. Irrlichternde Typen passen, gerade wenn sie zu Literatur gestanzt wurden, gut zu einer Drachenhöhle. »Soll sich verloren haben, Schwitter, vom Weg abgekommen und auf eine abschüssige Bahn gekommen sein.«So beginnt Thomas Schenk seinen Roman Im Schneeregen. »In einer Mulde kam er zur Ruhe. Die Wolken ließen sich mit den Fingern berühren. Schnee und Regen ließen sich nieder, und Schwitter saß da und schaute.«
 
Dasitzen und schauen, das tun wir jetzt auch. Hingucken auch. Ein prächtiger Hüüslischnägg (eine Weinbergschnecke, auf gut Deutsch) präsentiert sich in einer moosigen Delle zwischen moderndem Altholz und braunem Sickerwasser. Sein bedächtiges, lautloses Vor-sich-hin-Schleichen, das blitzschnelle Zurückschnellen und langsame Wieder-aus-dem-sicheren-Häuschen-Hervortasten, das ist pure faszinierende lange Weile. Und ganz leise leiste ich beim Zugucken ein bisschen Abbitte für die vielen Schneckenvorgängerinnen, die, in Kräuterbutter oder in Weinsüppchen, auch als Ragout, schon auf meinem Teller gelandet sind. 
 
In die Heitlenen geht’s ein andermal wieder, wenn’s trocken ist, die Wasserläufe im Geröll versickern und vielleicht eine neue Generation Steinmännchen nachgewachsen ist. 
Schnell ist man wieder in der großen Welt. Es geht immer leicht abwärts, vorbei an einer Messstation bei Unter Tries, an den Verbauungen, den hochragenden Holzbeigen bei Ijenschatten. Die letzte halbe Stunde wandert man den domestizierten Grossbach entlang zum Sihlsee hinunter. Nur ein paar Hundert Meter die Seestrasse entlang ist es zum Landgasthof Seeblick, der, wenn es nicht Montag, Dienstag oder Mittwoch ist, oder Nachmittag, eventuell offen hat. Sicher ist eines, mit dem Postbus ist man in einer Viertelstunde wieder in Einsiedeln.
 
 
Thomas Schenk habe sich von der Einöde des Grossen Runs inspirieren lassen, heißt es. Wer wissen will, wie’s mit dem eher merkwürdigen Schwitter weitergeht: Im Schneeregen. Eine Geschichte, Weissbooks, Frankfurt a. M. 2010.
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