Abschied von Ursula Bauer

Patrizia Grab in Zu Fuß / 21. November 2024
Abschied von Ursula Bauer
Liebe Ursi
 
Du hast es mir gezeigt …
 
… das Valle Maira. Das mystische Tal, das mich seit Anbeginn meiner Rotpunktzeiten begleitet, ohne dass ich je dort gewesen wäre. 19 Jahre mussten vergehen, und dann habe ich es gesehen! Mit dir.
 
Bis dahin war es ein langer Weg. Als junge Herstellerin kam ich 2004 zum Rotpunktverlag. Und schon bald hiess es: «Bauer-Frischknecht kommen in den Verlag.» Ich glaube, es war eine Nachauflage, vermutlich sogar von Antipasti und alte Wege. Oder war es Grenzschlängeln? Auf jeden Fall war ich nervös. Euer Ruf eilte euch voraus, ihr wart schon damals eine Marke, eine Institution und eigentlich immer im Doppelpack. Bauer-Frischknecht eben. Ich weiss nicht, was ich erwartet habe. Aber sicher nicht deinen Auftritt: Mit eleganter Kurzhaarfrisur und in adretter Lederjacke bist du aufgetaucht. So habe ich mir eine Wanderbuchautorin wahrlich nicht vorgestellt. Du warst die Stillere von euch beiden, aber sicher nicht die Stumme. Deine Kommentare und Meinungen kamen präzise und immer zur richtigen Zeit. Jürg hat mich eher etwas eingeschüchtert mit seiner Strenge. Ich brauchte Zeit, um bei ihm dieses Zucken im rechten Mundwinkel zum ersten Mal auszulösen. Aber du warst mir sofort nah, mit deinem schönen Solothurner Dialekt, der mir als Oltnerin im fernen Zürich so vertraut war. Und doch dauerte es acht Jahre, bis ich mich an mein erstes Bauer-Frischknecht-Buch wagte: Schüttelbrot und Wasserwosser. In herstellerischem Übermut mit fünf Farben gedruckt. Ich glaube, das knallige Grün hat euch beiden nicht gefallen. Gesagt habt ihr es nie. Ich hatte bei euch meine gestalterische Narrenfreiheit. Und ihr hattet das Vertrauen von Lektor Andreas Simmen. Welche Autor:innen kürzen schon ohne Lektoratsaufsicht Texte mit der Herstellerin am Bildschirm, wenn einer mal eine Zeile zu lang ist? Bei diesen Stunden am Bildschirm hast du mich oft gerettet. Jürg erzählte Geschichten zu jedem Bild, zu jeder Recherche. Sehr spannend, aber zeitraubend. «Jürg, das interessiert Patrizia nun wirklich nicht.» Das war 2012.
 
Die nächsten vier Jahre vergingen wie im Flug. Wir machten neue Bücher zusammen, druckten die alten nach, nachdem ihr sie aktualisiert hattet. Man sah sich, oder auch nicht. Wenn wir uns trafen, war es immer schön und meistens produktiv. Unvergessen der Abend an der Weinbergstrasse, als wir zehn Jahre Grenzschlängeln feierten. Da erlebte ich – bei Wachtelspiegeleiern – zum ersten Mal, wie wichtig euch der Genuss nach dem Wandern war. Eindrücklich der Abend im Strauhof, als ihr dem Publikum Einblick in euer gemeinsames Schaffen und Schreiben gabt. Niemand von euch hat je Anspruch auf gewisse Textstellen erhoben, ihr habt vierhändig geschrieben. Und doch waren es für Unbelehrbare oft «Frischkis Bücher». Jürg ärgerte sich sehr darüber; und du bestimmt auch, wenn du im Schatten standest. Doch bei Solothurn-Olten-Aarau, da lobte Andreas Simmen ausdrücklich den Jura-Text, und Jürg meinte (bestimmt mit einem Zucken im Mundwinkel und ganz sicher voller Stolz): «Ich sage es der Autorin gerne weiter». Dieser Text war also allein von dir, Ursi.
 
Allein von Ursi. Allein. Was für ein Schock und Schmerz für uns alle, als Jürg 2016 verstarb. Gerade noch konnten wir ihm eine achte Auflage von Antipasti überreichen. Mit wohl letzter Kraft hat er die Aktualisierungen gemacht. Was wir noch nicht wussten, ahnte er vielleicht, denn er machte uns ein grosses Geschenk: In den Serviceteilen von Antipasti wurde alles vereinfacht. Nur noch die nötigsten Infos, keinen Busfahrplan vom Valle Maira mehr, Internetadressen mussten genügen. Danke, Jürg! Doch was jetzt?
 
Der Verlust muss für dich unfassbar gross gewesen sein. Ich war in dieser Zeit oft in Griechenland, weg vom Verlag, weg von dir. Diese Zeit liegt etwas im Dunkeln. Aber noch dunkler wurde es mit deinem schrecklichen Unfall. Wir haben um dich gebangt. Hast du noch genügend Lebensmut oder willst du lieber zu Jürg? Ich hätte es verstanden. Und war doch so froh, als du – langsam, Schritt für Schritt – wieder zurückkamst.
 
Du hast deine Eleganz nicht verloren, obwohl dein Körper dir viel abverlangt hat. Auch dein Humor kam wieder zurück, dein Schalk und ein verschmitztes Lächeln. Aber die Lücke blieb. Was tun, wenn der Schreibpartner wegfällt? Wie sollte es weitergehen? Du hast dich an einem neuen Buch versucht. Es wollte nicht so recht klappen. Du hast gehadert. Und so haben wir zur Eingewöhnung die kurze Form gefunden. Kapitelweise hast du unseren Blog mit den Bach- und Flussgeschichten gefüllt. Die Freude war immer gross, wenn ein neuer Text von dir eintraf, und deine Ungeduld war schon fast wohltuend, wenn wir nicht sofort darauf reagierten. Bei der Biber-Wanderung durfte ich dich begleiten. Kurz vor dem Lockdown im Frühjahr 2020. Fluchend bist du durchs Rothenthurmer Hochmoor gestapft. Mir wurde schnell klar: «Bleiben Sie zu Hause», wird für Frau Bauer nicht gelten.
Unsere Beziehung wurde enger. Auch deine zum Rotpunktverlag. Bald hast du von «wir» gesprochen und damit den Verlag gemeint. Diese Verbundenheit war für beide Seiten wichtig. In dieser Zeit hat sich der Verlag sehr verändert, er wurde personell durchgeschüttelt, und wir beide waren plötzlich die Alten. Ursi, du kannst dir gar nicht vorstellen, was für eine Stütze du mir in dieser Zeit warst. Ich konnte dir immer meine Ängste und Sorgen anvertrauen, meine Unsicherheiten zeigen und auch einfach mal in deiner Küche Dampf ablassen. 

Dann stand das grosse Jubiläum an: 25 Jahre Antipasti, die zehnte Auflage. Du hast dich da richtig hineingestürzt. Klar, für diese Ausgabe waren Recherchearbeiten vor Ort unumgänglich. Und dann kam der für mich magische Moment: Du hast mich mitgenommen ins Valle Maira! Gut, du warst froh, dass ich ein Auto habe, aber ich war glücklich, endlich dieses mystische Tal zu sehen. Ab sofort wurdest du zu meiner Ferienmanagerin, hast alles gebucht und geplant, ich musste dich einfach an der Weinbergstrasse abholen. Wir haben gut zusammengepasst: ich ohne jegliche Kondition und du schon etwas unsicher auf den Beinen. Das Wandertempo mit dir war perfekt. Nur deine Sturheit trat vermehrt zu Tage. Du wolltest hoch und steil hinaus. Um jeden Preis. Ich brauchte einige Ausreden, um dich davon abzuhalten. Dass du körperlich nicht mehr alles schaffst, hat dir zu schaffen gemacht. Aber was du geschafft hast, hat mich beeindruckt; ich jedenfalls bin an meine Grenzen gekommen. Auch kulinarisch. Ich habe schnell gelernt, dass man reichlich frühstückt, dann den ganzen Tag möglichst nichts mehr isst, damit man abends den fünf Gängen der piemontesischen Küche gewachsen ist. Ist das gesund? Ich weiss es nicht, aber geschmeckt hat es, und du hast es sehr genossen. Genusswandern pur. 
Ich bin dir dankbar, dass du mich bei aufziehendem Unwetter in diese wunderschöne Hochebene am Col de Maurin geführt hast. Schritt für Schritt, in stoischer Gleichmässigkeit sind wir durchs Wetter gestapft, und plötzlich war sie da: die Barca, das Boot. Diese wunderschöne Steinskulptur, ein Denkmal für Menschen auf der Flucht. Wie viele Menschen haben vor Jahrzehnten über diesen Pass das Land verlassen, um im angrenzenden Frankreich eine bessere Zukunft zu finden? Wie viele Menschen sind heute auf der Flucht? Nachdenkliche Minuten, zusammen schweigen in dieser stillen Landschaft.
 
Es war schön, zu sehen, was ihr im Valle Maira bewirkt habt. Du warst eine Instanz. Deine Meinung war den Menschen wichtig. Viele Gespräche hast du geführt, viele Details für die zehnte Auflage abgeklärt.
Das alles im Buch zu verarbeiten, war dann doch ein Kraftakt für dich. Du warst regelmässiger Gast im Verlag, hast dich schon fast einquartiert, und wir haben Stunden am Bildschirm verbracht. Oft hast du Jürg vermisst, auch mal mit ihm und dir geschimpft. Aber so stoisch wie auf den Wanderungen hast du Kapitel für Kapitel durchgeackert. Für mich schon fast zu perfektionistisch, aber für dich war es wichtig, Jürgs Akribie fortzuführen. Ganz am Schluss hast du vorne im Buch die zwei kleinen Nachrufe für Andrea und Maria Schneider um den von Jürg ergänzt. «Jetzt bin ich die Letzte, jetzt trage ich die Verantwortung.» Mit deinem Mut, die Umschlaggestaltung über den Haufen zu werfen, hast du bewiesen, dass du es auch alleine kannst. Und so prangt auf der zehnten Auflage die wunderschöne Barca und erinnert mich jeden Tag an diesen Moment im Frühsommer 2023.
 
Und noch einmal wurdest du zur Reisemanagerin. Gefeiert wurde das Antipasti-Jubiläum im Valle Maira, im Frühsommer dieses Jahres. Mit Verlag, Familie und Freunden. Zuerst in San Martino, diesem Ort, der dir so viel bedeutet. Dann, ganz aktiv, beim «Müürli bauen» zuhinterst im Tal, beim Mistral. Diese beiden Orte spannen den ganzen Antipasti-Bogen: von den Anfängen in San Martino mit Maria und Andrea Schneider, wo die Idee für dieses Buch entstand, bis zur Locanda Mistral, wo Renato Botte mit seiner Familie zeigt, dass eine Zukunft im Tal möglich ist. Weisst du, wie wichtig diese Blaue Bibel für das Tal war und ist? Ja, du wusstest es, und du hast dir Sorgen um die Zukunft vom Valle Maira gemacht, Sorgen, dass der Rundweg wegen Abwanderung nicht mehr begangen werden kann.
Auch du hast bereits Abschied genommen. Nicht vom Tal, aber von bestimmten Wegen. Lange standst du jeweils da. Hast die Aussicht in dich aufgesogen, dir alles genau angeschaut und gesagt: «Vermutlich stehe ich das letzte Mal hier, nächstes Mal schaffe ich es vielleicht nicht mehr.»
 
 
Auf einem Vorsprung beim Ginsterweg im Valle Maira, mit Blick Richtung San Martino. Mai 2024
Auf einem Vorsprung beim Ginsterweg im Valle Maira, mit Blick Richtung San Martino. Mai 2024

  
Vor ein paar Wochen, auf einer gemeinsamen Wanderung, warst du – nach dem obligatorischen Schimpfen am Anfang der Strecke – glücklich, dass du den Rundweg über die Ibergeregg geschafft hast. Bei jedem Abzweig zurück zum Auto wolltest du noch eine Schleife anhängen. Wir haben viel länger gebraucht wie auf den Wegweisern angegeben. Aber dann, den Parkplatz schon in Sichtweite: «Ich kann es doch noch!» Es war dir so wichtig. Danke, dass ich dich noch einmal begleiten durfte.
 
Du hattest Pläne: Noch einmal eine «Müürli-Woche» im Frühsommer 2025 im Valle Maira. Und das Buch über die Bäche. Und zwar mit Schuber, ein schönes Büchlein, nein, zwei, sonst macht ja der Schuber keinen Sinn. Wie gerne hätte ich dieses Werk mit dir gemacht. Wir wollten uns am Freitag treffen, vielleicht weiter darüber nachdenken oder Reisepläne schmieden oder einfach nur plaudern. Und dann bist du am Samstag einfach gegangen. Für uns alle so unerwartet schnell. Jetzt bleibt die Lücke. Niemand kann sie ausfüllen. Aber es wird so viel von dir bleiben. Im Valle Maira, im Verlag, in unseren Herzen. Wir werden dein Vermächtnis hüten und pflegen. Jetzt kommt zu den drei kleinen Nachrufen auf Jürg, Maria und Andrea bald der vierte hinzu. Das tut weh.
 
Liebe Ursi, du warst eine grossartige Frau. Du hast deinen Platz gefunden, auch ohne Jürg. Du warst Bauer – natürlich ein Teil von Bauer-Frischknecht –, aber auch einfach Ursula Bauer. Du standst in niemandes Schatten, du warst für mich und uns eine strahlende Frau. Natürlich hat es Schatten und Zweifel gegeben, natürlich hast du dunkle Momente erlebt. Aber für uns bleibt das Licht. Du hast mehr für den Rotpunktverlag bewirkt, als du dir vorstellen kannst, und wir können dir nicht genug dafür danken. Danke für die vielen wundervollen Jahre mit dir und deinen Büchern! Die Bücher und die Erinnerungen werden bleiben, du hast für viele Menschen bleibende Spuren hinterlassen.
 
Ich geb dir deinen letzten Gruss, den du mir geschickt hast, zurück:
 
Auch dir viel Himmelblau
Ganz herzlich
Patrizia
 
 
Es gibt viele Orte, dir nah zu sein. Zum Beispiel auf dem Brünnelistock, kurz vor der Ibergeregg.
Es gibt viele Orte, dir nah zu sein. Zum Beispiel auf dem Brünnelistock, kurz vor der Ibergeregg.

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