Bei meiner Mutter

Vincenzo Todisco in VierzigTageBuch / 01. April 2020
Bei meiner Mutter

Unter anderen Umständen hätte ich sie heute mit einem Aprilscherz überrascht. Diesmal ist mir aber nicht zum Scherzen zumute. Ich gehe seit mehr als vierzehn Tagen nicht mehr in ihre Wohnung, auch nicht ins Haus, betrete nicht einmal die Treppe, die zum Eingang führt. Ich warte draußen. Gemessen an der Zeit, die noch bleibt, sind in ihrem Alter vierzehn Tage eine halbe Ewigkeit.
Der Nachbar hat einen Einkaufszettel für mich in den Briefkasten gelegt. Er kommt trotzdem nach draußen und geht, den gebührenden Abstand einhaltend, mit mir die Liste nochmals durch.
Da kommt die Mutter aus dem Haus und bleibt abseits stehen. Das Umlernen braucht Durchhaltewillen. Ich darf sie nicht um­armen.
Die Nachbarin steht im Garten und ruft herüber, jetzt komme die Strafe Gottes, die wir alle verdient hätten.
Der Nachbar ist noch nicht fertig mit seinem Zettel. Ich sage immer: »Ja, keine Sorge, ich hol dir alles so, wie es auf dem Zettel steht.« Er will mir trotzdem alles nochmals aufzählen: Die Äpfel, genau fünf an der Zahl, sollen bitte Golden Delicious sein, und die zwei Kilo Spaghetti unbedingt Nummer 7, und dann sechs Eier, aber Felsberger Landeier, und Nussschoggi und … Die Liste ist lang.
Am Nachmittag bin ich wieder da. Ich habe für beide eingekauft. Die Mutter braucht fast nichts, einen Liter Milch, zwei, drei Bananen, Kiwis, wegen der Vitamine … Für den Nachbarn sind es zwei volle Tragtaschen geworden.
Ich läute bei der Mutter. Sie schaut aus dem Fenster. Ich muss es mir immer wieder sagen, du gehst jetzt nicht nach oben, du setzt dich nicht an den Tisch und wartest nicht, bis sie den Tee gekocht hat. Du bleibst hier, und sobald sie aus der Tür kommt, gehst du auf Abstand.
Ob sie die letzte Nacht gut geschlafen habe, frag ich sie zur Begrüßung. Sie antwortet, wenn der andere Mieter unter ihrem Schlafzimmer Handorgel spiele, zögen die Klänge durch den Holzboden bis zu ihr herauf. Sie könne trotzdem schlafen, sie fühle sich so weniger allein.
In ihrer Gegenwart voller Vergangenheit hat die Mutter sonst immer eine Geschichte auf Lager, vom Leben damals in ihrem Dorf, von ihrer Jugend, von ihren ersten Jahren in der Fremde. Um eine Geschichte erzählt zu bekommen, muss man sich an ihren Tisch setzen und auf den Tee warten. Es braucht ihre bittere Kräutermischung, die niedrige Küche, den Fernseher, den sie leiser stellt, wenn ich da bin, aber nicht ausschaltet.
Am späten Nachmittag komme ich zum dritten Mal. Wir gehen gemeinsam zum Friedhof, aber nicht durchs Dorf, man habe ältere Menschen schon nach Hause spediert, habe ich gehört. Also nehmen wir den Weg, der hinter dem Haus zum Waldrand führt. Die Mutter liegt schon wieder weit zurück. Ich erinnere mich, wie ich ihr einmal gesagt habe, ich gehöre zur ersten Generation, die keinen Weltkrieg erlebt hat. Jetzt sagt sie, das hier sei schlimmer als der Krieg. Wenn damals die Sirenen heulten, musste man in den Keller oder sich sonst irgendwo verstecken. Das hier sehe und höre man nicht.
Sie sei das Alleinsein gewohnt, versucht mich die Mutter zu trösten. Ich erinnere sie daran, was zu tun ist: Hände waschen, in die Armbeuge husten, Abstand halten. Wofür all das, wenn sie ohnehin nicht aus dem Haus dürfe, sagt sie. Sie steigt die kurze Treppe zum Eingang hoch. Ich höre, wie sie schwer atmet. Sie sei einmal eine leidenschaftliche Tänzerin gewesen, lacht sie. Ich lache auch, mache mich wieder auf den Heimweg. Es herrscht diese Stille im Dorf, an die ich mich schon fast gewöhnt habe. Und dann dieser Gedanke: Und wenn der ganze Spuk nur ein kolossaler Aprilscherz ist, der um Mitternacht endet …?

Vincenzo Todisco, Rhäzüns, Schweiz
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