»Bewusste Lenkung des Blickes« Von Biberbrugg nach Schindellegi

Ursula Bauer in Zu Fuß / 11. October 2022
»Bewusste Lenkung des Blickes« Von Biberbrugg nach Schindellegi
Biberbrugg – Dreiwässern – Schwantenau – Hinterhorben – Meieren – Tüfelsbrugg – Büel – Wäni – Geissboden – Dreiwässern – Schindellegi 3.30–4 Std.
LK 1:25 000, Blatt 1132 Einsiedeln

»Die Kulturlandschaft als umfassendes Werk natürlicher und kultureller Prozesse bildet den Rahmen jeder baulichen Tätigkeit.« Schön gesagt. Stammt nicht von mir.

Fest steht, Biberbrugg ist ein Ort zum Davonlaufen. Auf der geschwungenen Straßenbrücke, unter der fast unbemerkt die Biber in die Alp mündet, geht’s Richtung Einsiedeln. Nach ein paar Minuten werden wir mit gelben Markierungen auf der rechten Seite der Alp in den Wiesenhang zum Altberg hinauf dirigiert. Heute nicht. Auf schmalem Wiesenweg wandern wir die Schlaufe der Alp entlang nordwärts in den Wald. Auf der andern, der linken Flussseite zwängen sich Autostraße und Eisenbahn gemeinsam durch das Tobel des Alpbachs, was nicht zu überhören ist. Sonst gibt es hier, linksufrig, nichts zu meckern, der Wald steht still und schweiget. In der Nacht hat’s geregnet, es riecht feucht und erdig. Den Weg entlang sprießen, wie großzügig hingestreut, Heerscharen kleiner gelber Pilze, Primeln im Frühling gleich. 

Wir queren auf einem soliden Holzsteg ein Bachtobel. Der Weg wird zur Waldstraße. Die Abzweigung Schwantenau beachten wir nicht (wir nehmen später den Hintereingang). Geradeaus geht’s weiter Richtung »Dreiwässern«, meint der Wegweiser. Das erstaunt, weil im Schwantenauwald nicht drei, sondern viele Wasser zu finden sind. 

Die Alp schlägt einen markanten Haken gegen Osten und lässt die lärmige Autokarawane gen Schindellegi abfahren. Wir folgen dem Fluss auf einem kleinen Fußweg eine waldige Geländekante entlang. Nur selten sieht man das felsendurchsetzte Bachbett unten aufblitzen. Da, wo unser Pfad einen Knick nach rechts macht, stehen wir über Dreiwässern – sagt die Karte. Das Rauschen aus der Tiefe, das Zusammenfließen von Alp und Sihl, ziemlich versteckt im Dunkelgrün – eine schöne, abgeschiedene Ecke, perfekt fürs Picknick. Man weiß, wandern macht gescheit und Fitnessriegel verleihen den Gedanken Flügel. Was man hier doch alles machen könnte: Eine Strickleiter den steilen Hang runter ans Wasser? Nee, das Gestrampel. Filigrane Hängebrücken hinüber in die grünen Matten von Bleiken? Nicht sonderlich originell. Jodeln überm Wasser, von Hang zu Hang? Nun ja, originell vielleicht. Alphörner? Beim Weitergehen sind wir uns einig, am besten bleibt es, wie’s ist.

Bald leicht sinkend zieht der Weg den waldigen Hang entlang weiter. Das Gelände wird flacher, und zwischen den Bäumen sieht man jetzt die Sihl im kiesigen Uferrand herumtümpeln. Für uns geht’s rechter Hand in einer moosigen Bachrunse nach oben. Der Hang ist feucht. Farne geben sich wie exotische Dschungelgewächse, gelbe Ahornblätter schwimmen auf dunklem Moorwasser, Totholz hängt in der Runse. Bald treten wir aus dem Wald in die Riedflächen der Schwantenau hinaus, des kleinen, feinen Bijous unter den hiesigen Mooren. 

Linker Hand (Punkt 869) markieren weiß-gelbe Pfosten den Pfad über die Hochebene. Hie und da schmatzt’s unter den Füßen. Torfstichstellen sind als kleine Wälle noch sichtbar, gute fünfzig Jahre nachdem das Turben auch hier ein Ende fand. Jetzt steht die Schwantenau unter Naturschutz und im Bundesinventar für Landschaften und Kulturdenkmäler. Weiße Birkenstämme, kleine Torfhütten, schwarzäugige Tümpel im dunklen Moorboden, ein Verdämmern in Rostrot, Braun und Beige. Ja, ja, Melancholie steht dieser Landschaft gut. »Einsam ist es, übers Moor zu gehn.« Heute, an einem diesigen Herbsttag, kurven noch ein paar rote und gelbe Landmaschinen über die Riedflächen, die gemäht werden dürfen. Im Winter schlauft eine gern benutzte Langlaufloipe darüber hin. Einsam ist anders. 

Auf dem Hügelkamm bei Hinterhorben haben wir etwa die halbe Strecke hinter uns. An einer Scheunenwand kleben Informationen zum Pilgerweg. Das kleine Ried Roblosen im Osten kann man als ein Stücklein Erinnerung an die karge Sihlhochebene lesen – Armeleuteland, im Sihlsee versunken. Was wäre heute, wenn gestern nicht gewesen wäre? Weltkulturerbe? Ethnomuseum? Ein Ballenberg mit Torfstechen für Groß und Klein? Ewiger Zankapfel zwischen Naturschutz, Umweltschutz, Heimatschutz – und Panzerübungsplatz zum Schutze aller?

Am Hof Chammeren vorbei geht’s auf dem Asphaltsträßchen wieder abwärts. Vor Stofel zweigen wir rechter Hand ab in einen Wiesenpfad, der in einem weiten Bogen hinunter zur Tüfelsbrugg führt. Breitbeinig und solide steht sie in der Sihl, exakt breit genug für einen Traktor mit Heulader. 

In Messing gegossen sind die Lebensdaten der Brücke nachzulesen. Auch Nepomuk fehlt nicht, der böhmische Heilige der Brücken, des Beichtgeheimnisses und des Hauses Habsburg. Ich mag die Nepomuken, von Prag bis Chiavenna. Auch Goethe mochte sie: 
 
Auf großen und auf kleinen Brucken
stehn vielgestaltete Nepomuken
von Erz, von Holz, gemalt, von Stein,
kolossisch groß und puppisch klein.
Jeder hat seine Andacht davor,
weil Nepomuk auf der Brucken das Leben verlor.
[…]
 
auf der Karlsbrücke zu Prag, anno 1393.

Ennet der Tüfelsbrugg steht, wie es sich gehört, ein großes Gasthaus, die Krone, flankiert von einer hellen Erdrutschnarbe im Hang. Eigentlich ganz stimmig, dass Paracelsus, der berühmte Medicus, Alchemist, Astrologe et cetera pp. hier geboren wurde, 1493, und seine frühen Kinderjahre zwischen den wilden Wassern und steilen Hängen verbrachte. Nepomuk würde sich wundern, mit wem er auf der Tüfelsbrugg den Ruhm teilen muss. 

Nach wenigen Minuten hangaufwärts zweigen wir links in einen Feldweg ab, der bald als gepflästerter Saumweg den Weidehang hochzieht. Eine Infotafel erzählt die Geschichte der »Gass«. Bevor man ob Bodmern im Wald verschwindet, lohnt sich ein Blick zurück, in eine Idylle, die so gar kein Wässerlein trüben kann. 

In einem Hohlweg mit Holzkreuz, dann an einem Anwesen hinter blickdichtem Grünzaun vorbei kommen wir auf eine Asphaltstraße. Nicht für lange: In einer Spitzkehre geht’s wieder an einen Waldrand. Und wir treffen auf ein militärhistorisches Denkmal aus dem Zweiten Weltkrieg, die Sperrstelle Etzel. Fast niedlich ist sie nach heutigem Verständnis, außerdem hübsch gelegen. Hübsch gelegen ist auch eine rote Bank mit Informationen zum »Bauernlehrpfad rund um den Etzel« – passt alles ausnehmend gut hierher. 

Stotzig geht’s direttissimo einen Wiesenhang hinunter – was wir einem vehementen Verteidiger seiner Privatsphäre zu verdanken haben – zum Biohof Büel mit Bioladen und Kaffeeausschank. Auf der Asphaltstraße zotteln wir am Ausflugsrestaurant Büel, das an einem solchen Tag niemanden locken kann, an einer Hundertschaft leerer Parkplätze und an einer Sportanlage vorbei, den Zürichsee und die gut möblierten Wohnzonen von Feusisberg und Schindellegi vor Augen. Bei Wäni, einem ausgesprochen stattlichen Bauernhof, geht’s links ein, zwei Straßenkurven runter. Und endlich auf einem Kiesweg rechter Hand wieder an die Sihl. Dreiwässern vereint Biotop, Fischtreppe, Staustufe – und ein gutes halbes Dutzend Infotafeln. Noch Fragen?
Zehn Minuten noch die Werkstraße entlang ins enge Flusstal. Die frisch gestärkte Sihl wird allsogleich in einer ersten Staustufe in die Pflicht genommen. Auf dem kleinen Rückhaltebecken bilden Staub und Schlick helle Girlanden und Schleifen, fein gehäkelten Bordüren gleich. 
Dann sind wir tatsächlich am Ziel unserer Träume, da, wo die wilde Alp und die recht gesittete Sihl in einem weiß schäumenden Wirbel aufeinandertreffen, ein perfektes Ypsilon bilden, drei Wasser, Dreiwässern. 

Heute sind wir allein hier; das ist man nicht oft. Eine diesige Sonne taucht das waldige Tobel des Alpbaches in ein mildes, warmes Licht. Ein paar Baumstämme bleichen vor sich hin. Die Steinblöcke im Wasser sind noch warm, die sandigen Kuhlen weich. In einem hellen Kiesbett kann man Stunden vertrödeln, kein Stein ist wie der andere. Im weichen Waldboden verlieren sich ausgetretene Pfade in feuchten Gräben und trockenen Nebenläufen. 
Vom Wegweiser Dreiwässern vorne auf dem Geissboden sind es noch vierzig Minuten bis Schindellegi. 
 
Für den Schluss zurück zur Einleitung. Ich zitiere weiter: Erhalten bleiben sollen »die natürliche Dynamik der Flusslandschaften sowie die Urtümlichkeit der nicht erschlossenen Flussabschnitte«. Es gehe auch um »die Sensibilisierung für den Landschafts- und Lebensraum […], da dieser für ganz neue Nutzergruppen wahrnehmbar wird. Durch bewusste Lenkung des Blickes – sowohl berg- als auch talwärts – werden die Qualitäten des Ortes in Szene gesetzt und es entsteht in der Summe ein eindrückliches Landschaftserlebnis.« (Jurybericht)
Ein Projekt der Superlative. Nein, keine Hängebrücke.
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