Es lächelt der See ganz unbekümmert

Ursula Bauer in Zu Fuß / 07. June 2023
Es lächelt der See ganz unbekümmert
Ab Bahnhof Einsiedeln Bus 552. Egg – Hirzenstein – Roblosen – Sihlsee Uferweg – Birchli – Vogelherd – Einsiedeln ca. 3 Std.
LK 1:25 000, 1132 Einsiedeln
 
Der Wanderdrang hat es so an sich, dass er manchmal erst nach dem Mittag aufwacht, vor allem jetzt, wo die Abende lang und länger werden.
 
Also stehen wir an einem späten Nachmittag Ende Mai in Egg auf dem Postplatz, will heißen auf der Wendeschlaufe für den Postbus. Eine Kirche und ein Wanderwegweiser, der in alle Himmelsrichtungen zeigt, sind ungefähr das Prickelndste hier. Wir folgen den gelben Markierungen in die aufgeräumte Stille eines neuen Wohnquartiers, schwenken bald rechts auf einen schmalen Pfad ein und steigen einen Wiesenhang hoch zu der Dreifaltigkeit Holzkreuz-Baum-Sitzbank, mit gemeint, wie immer, der schöne Blick. Unten, in einer Schlaufe der Sihl, die eben dem Stausee entronnen ist, Egg, klein vor den waldigen Hügeln, die sich über dem engen Sihltal vom Stöcklichrüz zum Etzel hinüberziehen. Gegen Westen hin öffnet sich bei Hirzenstein eine sanfte weite Riedlandschaft, darin, wie hingestreut, dunkle Tanneninseln und helle, schlanke Birkenwäldchen; am Horizont stehen prominent die Mythen. Bei Tiefenbrüggli stoßen wir kurz auf die Straße, an der sich die Bauernhäuser der Fraktion Waldweg reihen. Wir biegen auf den Fahrweg durchs Naturschutzgebiet Roblosen ein. Aus einer Handvoll alter Torfhütten sind herausgeputzte Wochenendhäuschen geworden, mit Blumenrabatten, Pflanzplätz und Parkplatz. Ein paar Sickergräben ziehen sich durch den Riedboden. Im Süden blecken die Voralpen, noch verschneit, ihre spitzen Zähne. Und bald liegt auch der Sihlsee vor uns. Ein stilles Wasser, das kein Wässerchen trüben kann.
 
An der Wegkreuzung Pt. 918 steht eine Art Gruebi, farbige Holzkreuze an den Dachstreben, eine umlaufende Holzbank. Halten in silbernen Mondnächten vertriebene Moorgeister hier ihre Landsgemeinden ab? Aber das ist nur was für romantische Gemüter. Landschaftspfleger, bezahlt von Tourismus Einsiedeln? Schulklassen im Naturkundeunterricht? Ja was denn nun? Wasserkraft kontra Naturschutz? Das klingt vertrauter, als einem lieb ist. Das Komitee zur Erhaltung der Trift kann davon ein Lied singen.
 
Der Sihlsee, eigentlich eine Glungge mit maximal 27 Meter Tiefe, ist flächenmäßig mit Abstand der größte Stausee der Schweiz. Was das Stauvolumen angeht, liegt er abgeschlagen auf Platz 13.
 
Die moorige Hochebene im oberen Sihltal weckte schon 1887 Gelüste. Strom durch Wasserkraft war das Schlagwort der Stunde. Die boomende Industrie brauchte immer mehr Strom, auch die Eisenbahn. 1909 übernahmen die SBB das Projekt Etzelwerk: der Stausee mit Druckstollen hinunter nach Altendorf am Zürichsee. 28 Jahre später ist der Sihlsee gebaut und die Region leckt ihre Wunden.
 
Im Einsiedler Anzeiger tönte es damals so: »Als im Frühjahr 1937 die in ihr eigenes Grab gesperrte Sihl langsam, aber unerbittlich das sterbende Tal hinaufkroch und für immer das vertraute Antlitz der Heimat auslöschte, hat mancher beklommen zu ahnen begonnen, dass die klingende Münze nicht der Güter höchstes ist. In jeder Scholle Heimaterde steckt ja nicht allein der Fluch von Dornen und Disteln, sondern – und mag sie auch etwas herb und dunkel wie die Sihltalscholle gewesen sein – auch ein Gutteil des Gelobten Landes mit seinem süssen Segen von Milch und Honig.«
 
Auch wenn »Milch und Honig« eher »Torf und Kartoffeln« hießen, es war keine öde Wildnis untergegangen, sondern bewohntes und bebautes Land, und schon damals beklagte man auch den Verlust der einmaligen Fluss- und Moorlandschaft, die das obere Sihltal geprägt hatte. Etwa hundert Familien verloren ihre Höfe, über 1762 Personen mussten umsiedeln. Das Etzelwerk bot zwar Umsiedlungshöfe an – Altberg, Waldweg, Roblosen sind einige davon; eine Tafel am Uferweg zeigt die ganze Umsiedlung, eine andere fasst die Geschichte kurz zusammen. Aber der Erfolg der Aktion hielt sich in Grenzen. Nicht alle wollten in eines der normierten Häuser auf frisch melioriertem Boden ziehen, viele hatten auch nicht das Geld – die Ausgleichszahlungen flossen nicht so üppig wie erhofft – und zogen weg; einige sollen in die USA ausgewandert sein. Wirtschaftlich, auch das eine Enttäuschung für die Region, halfen die Konzessionsgelder nicht viel gegen die Krise und die Arbeitslosigkeit der dreißiger Jahre. Der als Trost gemeinte Hinweis, dass sie, die Bauern aus dem Seegebiet, ihr Opfer zum Wohle und im Interesse des ganzen Landes erbracht hätten, klang nicht wenigen eher zynisch in den Ohren.
 
Nun galt es, das Unvermeidliche mit Würde zu tragen, übersetzt: sich auf das Positive zu besinnen. »Auch im Kanton Schwyz erfreut sich jeder helle Blick und jedes offene Herz der Lieblichkeit, ja der überraschenden Schönheit des Sees, den die Wasserwirtschaft mit dem Sihlsee in die herbe Strenge und Melancholie unseres Hochtales hinein gezaubert hat.« So Landammann Bertschi in seiner Rede anlässlich der Eröffnung des Etzelwerks 1937.
 
Beim Strandbad Einsiedeln herrscht Vorsaison-Groove, also gar keiner. Hier beginnt der Uferweg, dem wir bis Birchli folgen können. Kurz werden wir beim Jachthafen auf die Straße gezwungen, werfen auf dem Hüendermattdamm einen Blick auf die Toblerone-Zähne einer Panzersperre aus dem Zweiten Weltkrieg, umgehen ein paar ufernahe Häuser, aber dann sind wir wieder am Ufer. Der See gleicht hier einer Fjordlandschaft. Der Wasserstand ist tief, breite sandige Streifen ziehen sich wie ein bleicher Saum das Seeufer entlang. Manchmal liegen größere Flächen brach, die zeigen, wie seicht der See ist. Die Bäume sind nicht mehr kahl, aber man kann die Krähennester in den Astgabeln noch ausmachen. Drumrum lärmen die Vögel, als ob sie Aufrichte feierten. Ein paar schlappe Hunde wedeln vorbei, ein paar Enten hocken still am Wasser, damit es nicht gar zu ruhig wird, machen sich Jogger den Vortritt streitig. Bald schon sehen wir das Viadukt von Willerzell über den See stakseln. Im Rahmen der Neukonzessionierung 2023 machen die SBB die Brücke fit für die nächsten achtzig Jahre (mehr dazu: googeln).
 
Leider hat der Uferweg beim Birchli ein Ende. Noch kurz ein steiles Töbeli hoch, und wir sind bei der Postautohaltestelle, Richtung Einsiedeln Bahnhof. Gegenüber, leicht versetzt, führt ein Sträßchen hinauf zum Ausguck Vogelherd – dort wieder mal Pause mit Aussicht. Das Licht wird langsam diesig und bleich, bleibt noch eine ganze Weile im Ungefähren, zögert.
 
Ein Spazierweg führt ebenen Wegs den Wiesenhang entlang hinüber zum St. Benedikt. Der hat – wenigstens solange die frisch gepflanzten Bäume noch klein sind – freie Sicht auf das Kloster zu seinen Füßen, sein Kloster. Ein mächtiger Bau, ein akkurates Quadrat, klösterlich karg, wie ein Bollwerk gegen außen. Vorne dann die prunkvolle, selbstbewusste Inszenierung der Katholischen Kirche. Immer von neuem spannend, grad wenn man’s nicht so mit Religion hat.
 
Und zum Schluss: Hoffentlich hat die Gartenwirtschaft im Klosterhof noch offen. Ein Bier (fakultativ) täte jetzt gut. Der letzte Zug von Einsiedeln nach Zürich fährt um 23.24 Uhr.
 
Lesen: Karl Saurer (Hg.), Der Sihlsee. Eine Landschaft ändert ihr Gesicht, Offizin Verlag, Zürich 2003 – umfassend, in Wort und Bild.

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