Großskala-Biotop? Ballenberg? Wie viel Natur darf’s denn sein? Eine Suche nach dem Gleichgewicht der Dinge

Ursula Bauer in Zu Fuß / 24. October 2023
Großskala-Biotop? Ballenberg? Wie viel Natur darf’s denn sein? Eine Suche nach dem Gleichgewicht der Dinge
Ein Waldspaziergang am Zürichberg, mit Bach: Rigiblick – Moosweiher – Peterstobel – Resiweiher – Spitalbach – Moosweiher (oder Irchelpark/Milchbuck). 1–2 Stunden

Zürich-Karte der VBZ, 1:15 000. Hilfreich fürs Navigieren im Gewirr der Waldstraßen, Wege, Trampel- und Bikerpfade

Zürich ist eine Seestadt, eine Flussstadt, eine Stadt der Bäche auch. Die Liebe zu allem, was da fließt auf und vor allem unter dem Zürcher Stadtboden, ist allerdings noch ziemlich jung. Sie stammt aus den 1980er Jahren, als die löbliche Einsicht aufkam, dass etwas mehr Natur der Stadt gut anstehen würde; Renaturierung war jetzt das Wort der Stunde. Das hieß auch zurück ans Licht holen, was während gut hundert Jahren unter den Boden verbannt, sauber in Röhren abgeleitet oder in Beton-Streckbette gesteckt worden war. 

Nicht allen gefiel das. »Ich habe ja auch gerne Natur, aber das ist jetzt wirklich zu sehr Ballenberg! Die Bäche wurden schön kompakt verstaut, und Zürich ist immerhin eine Stadt. ›Mäandrierende‹ Bäche in der Stadt ist zu viel künstliches Großskala-Biotop. Für Natur gibt es in Zürich ausgedehnte Wälder.« So tönt’s aus der Kommentarspalte des »Tages-Anzeigers« im Sommer 2020. Die Stadtväter hatten’s einst doch so schön geregelt, Stadt ist Stadt und Bäche sind Bäche, da, wo sie hingehören, in den Wald. Nichts Biotope, großskalamäßige schon gar nicht. Egal was »Großskala« ist (nach Google ein Fisch).

Wenn’s denn heutzutage noch so einfach wäre. »Städtische Bäche müssen neben ökologischen in erhöhtem Masse gesellschaftliche Funktionen erfüllen. Es gilt ein gutes Gleichgewicht zwischen verwilderter und klinisch rein gepflegter Natur zu finden«, kontert die Stadt. 

Bravo. Auf zur Visite. Ein Berg muss es sein, an diesem wunderblauen Herbsttag. Und sei’s auch »nur« der Zürichberg. Ein paar schöne Bachrunsen, ein paar Weiher, ein Bähnli (die Rigiblick-Standseilbahn) und auch ein bisschen Mäandern durch Zürcher Stadtgeschichte, alles da. 

Oben, beim Rigiblick, nehmen wir den Weg, der zwischen zwei Häusern geradewegs in den Wald hochzieht. Der steile Fußweg endet nach wenigen Minuten in einer Wegspinne. Auf der Batteriestraße geht’s in einer links ausholenden Schlaufe zum Moosholzweiher, einem außerordentlich friedlichen Tümpel, einem gut besuchten (auch die Frösche mögen ihn), mit Grillplatz und Waldhütte. Eine Waldschule macht sich eben auf den Heimweg, und sehr laut und sehr engagiert verhandeln ein paar Damen auf einer sonnigen Bank am Wasser die Sitzordnung eines Familienbanketts. Aber sonst ist es still.

Dass dem früher ab und zu nicht so war, zeigt sich in einigen Straßennamen, Letziweg, Krattenturmstraße, Batteriesteig und Batteriestraße. Diese umrundet in weitem Bogen den »Gipfel« des Zürichbergs. Noch sind die Schanzen aus den zwei Schlachten um Zürich von 1799 auszumachen. Zum 100-Jahr-Jubiläum hat der Verschönerungsverein Zürich 1899 ein Denkmal aufgestellt. Auf der westlichen Kuppe dämmert ein Pumptrack, quasi ein Denkmal von heute, aber auch schon nicht mehr ganz taufrisch, vor sich hin. 

Später, gegen Abend, kommt oft das eine oder andere Reh zum Moosweiher gestöckelt. Auch die Zürichbergrehe sind nicht handzahm, aber ganz schön neugierig, das dann schon.

Wir schwenken bei der Hütte links in die Peterstobelstraße, später in den Peterstobelweg ein. Bei einer hölzernen Schranke kann man wählen. Ein Pfad führt rechts an der Schranke vorbei zum Krattenturm, zum Gedenkstein, präziser gesagt. Der Turm soll im 15. Jahrhundert hier gestanden haben. Auf alle Fälle lebt er im Wappen des Quartiers Oberstrass weiter. Ein Plan zeigt die Anlage mit den Letzinen, den »Schützengäben«, den Schutzwällen von damals. (Glücklich die Stadt, die nur für längst vergangene Kriege Denkmale setzen muss.) 

Heute folgen wir den gelben Markierungen und steigen ins Peterstobel ab zum Resiweiher. Keine rosige Resi stand dem Weiher Pate, der nüchterne Fortschritt war’s. Ein Reservoir,1882 als Druckwasserreserve für den Antrieb der Wasserturbinen im Pumpwerk Letten unten an der Limmat erbaut. Die unscheinbare Anlage war eines der allerersten Pumpspeicherwerke der Schweiz. 

Ökologische und gesellschaftliche Funktionen erfüllen, das reicht heute nicht mehr. Hochwasserschutz ist jetzt ganz oben auf der Traktandenliste und wird mit wissenschaftlicher Akribie angegangen. Eine Gefahrenkartierung der Stadt hält zum Resiweiher fest: »Der Weiher wird durch eine nicht im Gewässernetz verzeichnete Leitung gespiesen. Das Trennbauwerk in der Eindolungsstrecke wurde für die Hydrologieberechnungen der unterliegenden Schwachstellen (insbesondere am Spitalerbach) berücksichtigt. Der Weiher selbst hat keine Auswirkung auf die Hochwasserszenarien der umliegenden Schwachstellen.« 
Grad sehr in Form ist der Weiher (genau genommen sind es deren zwei) momentan nicht. Gitterzäune und Absperrbänder stören den Weiherfrieden. Eine Wasserleitung, wohl die »nicht im Gewässernetz verzeichnete« (ein irrlichterndes Gewässer oder was?), hängt bleich, wie ausrangiert über dem leeren, schlammigen Weiherbecken. So gar nicht biotopmäßig hübsch ist er, der Blick hinter die Kulisse. Auf dem Damm vorne warten ein paar Holzbänke vor sich hin. Wir gehen am unauffälligen Pumphäuschen vorbei mehr oder weniger den Waldrand entlang hinüber zum Spitalbach (Kartenbezeichnung). 

Der Bach hat zwei Gesichter, das eine zeigt eher die verwilderte Natur, das andere eher die gepflegte. Einander ebenbürtig liegen sie in den Waagschalen des guten Gleichgewichts. Wählen muss die Wanderseele selber. Die naturnahe Variante führt aufwärts. Ich mag sie sehr, es ist ein interessanter »Lehrpfad« auf kurzer Strecke. Der Weg ist zu Anfang einladend und wird bald schmaler. Den Bach entlang ziehen sich moosverhangene Uferverbauungen, weiter oben wird der Bachlauf mit Holzbohlen vertreppt, später in einer steinausgekleideten Rinne kanalisiert. Dann ändert sich das Bild. Das kleine Bachtobel wird eng und feucht. In einer Senke bildet ein Meer von Katzenschwänzen (Schachtelhalm) einen grün schimmernden Nebel, noch; bald werden die Stängel zusammenfallen und (wer einen schattigen Garten hat, kann davon ein Lied singen) im Frühjahr saftiger denn je wieder aufschießen. Ein-, zweimal muss man über einen gestürzten Baumstamm oder einen Reisighaufen klettern, das heißt wohl: Kein Abenteuertrail für Biker, bitteschön. Das Weglein wird zur Spur und endet in einem steilen Finish oben auf einem Waldweg (Buchhölzliweg), der, man staune, in die Buchhölzlistraße mündet. Ennet der Straße führt ein unmarkierter Pfad direkt zur Moosholzstraße hinüber, zum Weiher und zur Rigibahn. Ein hübscher Spaziergang.

Weniger feucht (und allwettertauglich) ist die zweite Variante, der renaturierte Bachlauf des Spitalbachs. Erst kaum sichtbar im Grün, fließt er neben dem Letziweg zur Frohburgstraße hinunter. Dort lassen wir ihn für eine kurze Weile und ersteigen den »Monte«. Der schöne Aussichtshügel ist entstanden aus dem Aushub der Irchelanlagen. Unten, neben der Frohburgstraße, plätschert jetzt der Spitalbach in einer Halskrause von dichtem Grün dahin, schlauft um die Gebäude der Uni Irchel und verschwindet in einem Weiher, der versteckt in einem Schilfdickicht liegt. Sehr schön der Spazierweg und romantisch das Seelein. Nur nicht gerade jetzt, eingequetscht zwischen Abschrankungen und umdröhnt von Baulärm. Aber alles wird gut, und der Irchelpark wird zum Landschaftscampus mit Erlebnisweg. 

Selbstverständlich gefällt auch das nicht allen. »Vielleicht müsste man auch einmal über die Kosten schreiben. Die Renaturierung beim Irchelpark war für satte 1,7 Mio. zu haben, bei ca. 700 Meter Länge. Und vermutlich ist es bis heute noch einiges mehr«, kommentiert ein besorgter Steuerzahler im Tagi. 
Kann gut sein, aber das ist wieder eine andere Geschichte.
 
Zum Schmökern in der Geschichte von Oberstrass, dem Quartier zwischen Rigiblick und Irchelpark: oberstrassweg googeln.
Wer den Dingen auf den Grund gehen will: Gefahrenkartierung Naturgefahren Stadt Zürich, hg. vom Kanton Zürich, Baudirektion, 2022. Als PDF herunterladen.
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