In Baden will Wellness als Philosophie gelebt werden

Ursula Bauer in Zu Fuß / 01. February 2023
In Baden will Wellness als Philosophie gelebt werden
Spaziergang durch Bäder-Baden

Baden sei »ein Ort, wo Wellness als Philosophie gelebt wird«. Flaumweich und ein bisschen nebulös kommt er daher, der Bädergeist. Baden sei ein Ort, der »die Sinne weckt und die Seele weitet. Räume in denen der Geist weg aus dem Alltag an andere Orte reist.« Cool.

Wir reisen erst mal zweihundert Jahre zurück. Die Badenfahrt von David Hess, 1818 zum ersten Mal veröffentlicht, zeigt anschaulich die eher marode Bäderstadt des frühen 19. Jahrhunderts, der die betuchte Klientel in den Wirren der napoleonischen Feldzüge abhandengekommen ist; der Glamour des Ancien Régime ist weggefegt, auch die Tagsatzungen der Alten Eidgenossenschaft, die Landvögte und ihre Untertanengebiete. Baden gehörte da schon zum 1803 gegründeten Kanton Aargau, und Politik wurde nicht mehr zwischen Badewanne und Galadiner gemacht.

Noch herrschte ein Rest von vorrevolutionärem gesellschaftlichem Dünkel. »Wenn manche einzelne Berner durch Kälte und Stolz etwas unzugänglich sein sollten, so klebt hingegen uns Zürchern eine gewisse schwerfällige, schüchterne Unbehilflichkeit an, die uns linkisch kleidet und in den Augen des für den feineren Umgang immer weit gewandteren Berners um eine Stufe tiefer stehen lässt.« – Ja, ja, ist zweihundert Jahre her.

Vor allem Familien aus der wohlhabenden Zürcher Bürgerschaft buchten weiterhin im Sommer mehrwöchige Badekuren, kamen mit Kind und Kegel, mit Mägden und Mobiliar angereist. Die Gemächer waren spartanisch eingerichtet, oft fehlten Matratzen, Vorhänge, Federbetten oder Truhen. Dafür liege der Dreck von hundert Jahren in den Zimmerecken. Das galt vor allem im »Hinterhof«, einem verschachtelten Gebäudekomplex, der jeder Neuerung trotzend immer noch die erste Adresse Badens war, insbesondere was Klatsch und Tratsch anging. »Sowie ein Fuhrwerk durchs Tor rollt, gehen überall die Fenster auf. Die Köpfe, wenn auch mit unvollendetem Lockenbau, streben auf verlängerten Hälsen hervor.« (Hess war auch Karikaturist.)

Für viele begann der Tag mit den berühmten Spanisch Brötli, bis zu sechs Stück pro Person schon zum Frühstück, 720 000 Stück pro Saison, rechnet Hess hoch – abspecken war nicht erstes Ziel einer erfolgreichen Kur. Die Mittagstafel unterbricht den vormittäglichen Reigen von Höflichkeitsvisiten. Man isst währschaft, lange und viel. »Eine wahre Qual ist die Musik, welche an den Wirtstafeln das Gehör der Speisenden täglich betäubt und die ohnehin angegriffenen Kopfnerven mit pompösen Märschen und rauschenden Walzern erschüttert, als müsste man durchaus jeden Bissen nach dem Takte kauen.« Gemüse gab es kaum. Wer hohen Wert auf vegetabile Genüsse setze »und eine gastronomische Kur gebrauchen kann, der muss nach Schinznach reisen«. Oder mit einem guten Schluck heißen Thermalwassers und einem Klistier morgens nach dem Frühstück den Magenproblemen zu Leibe rücken.

Mit vollem Bauch geht’s am Nachmittag in eine weitere Runde Kaffeevisiten. Oder, ist den Höflichkeiten Genüge getan und die Kur auf guten Wegen, kann ein Spaziergang ins Auge gefasst werden. Irgendwann wird auch gebadet. Die Gasthöfe haben eigene Bäder, oft auch eigene Thermalquellen. Bei Gicht und schmerzenden Knochen sei eine Stunde am Morgen, eine halbe am Abend das ideale Maß. Nicht zu beneiden sind diejenigen, die eine »richtige« Kur absolvieren, die bis zu fünf Stunden im heißen Wasser sitzen, auf den wohl heilsamen Hautausschlag warten müssen und nach drei Wochen fertig sind. Am Abend finden sich die Kurgäste im Mätteli, dem »lieblichen Wiesengrund an der Limmat«, ein. In Baden gibt es kein öffentliches Kaffeehaus und keine Weinstube, wo man Karten spielen kann. Der Staadhof, eben saniert, schlägt die erste Bresche in den biedermeierlich geprägten Kodex. Samstags bittet der Staadhof zum Tanz. Zu dem kommen darf, wer mag.

Angesichts des Zustands seiner Herberge neigt Hess zu radikalen Tagträumen. »Ich möchte wohl beim Abbrechen des alten Gemäuers zugegen sein. Hu, wie würden da am hellen Tag die Fledermäuse emporflattern aus ihren Nestern, in welchen sie seit Jahrhunderten ihr Monopol ausübten! [Es könnten] auch die Mäuse und Ratten, die Flöhe und Wanzen aus ihren verjährten Schlupfwinkeln ganz vertrieben und ausgerottet werden.« Erst 1870 tut man ihm den Gefallen, bricht den Hinterhof ab und errichtet an seiner Stelle ein Grandhotel. Das, nach dem Ersten Weltkrieg in Agonie gefallen, 1944 in einer militärischen Übung gesprengt wird.

»Eigentlich, wenn ich das Bedürfnis des Zeitalters betrachte«, findet Hess, »so kann ich mich des Wunsches nicht erwehren, dass sämtliche Bäder und Gasthöfe von einer liberalen Regierung gekauft und nach einem einzigen neuen, alles umfassenden Plan von Grund ausgebaut und eingerichtet werden möchten.« Er sah für Ennetbaden anstelle der diversen kleinen Bäder ein mehrflügeliges Kurbad, mit Ärzten – und einem Theatersaal. Resigniert schließt er seine Tour d’Horizon: »Die Welt ist nicht zu ändern, und mein Plan für Baden wird ewig ein frommer Wunsch, eine müssige Träumerei bleiben.«
 

Unsere Tour von heute ist kurz, mäandert aber durch eine lange Geschichte. Sie beginnt auf dem Badener Bahnhofplatz, der wie eine Terrasse über dem Städtchen sitzt. Der gelbe Wanderwegweiser zeigt, gut bestückt, in alle Himmelsrichtungen – schöne Aussichten.
Mit dem Lift geht’s hinunter auf die Limmatpromenade und ins Bäderquartier. Dory und Du, ein unkompliziertes, nettes Lokal … für später vielleicht. Hier, bei den ersten Kurhäusern, beginnt ein informativer Spaziergang, der mit illustrativen Infotafeln durch die Bäderstadt führt und die gut zweitausendjährige Geschichte aufblättert.

Der frisch gepflasterte Kurplatz wirkt leer und sauber aufgeräumt. Kaum vorstellbar, dass die Stadt Baden bis 1840 hier die beiden offenen, circa 1,80 Meter tief im Platz eingelassenen Thermalbecken, das Freibad und das Verenabad, betrieb. Hier durften sich alle, auch die Armen und die Kranken, ins gesunde Wasser setzen. Die heilige Verena lugt klein und verloren über der weiß umhüllten Fassade des Verenahofs in die Ferne. Was sich hinter der Umhüllung tut, wird man sehen, sicher ist: Es wird teuer.

Der öffentliche Trinkbrunnen von ehedem wurde als schlicht-elegante Erinnerung in den ziemlich groß geratenen Kubus der Residenz47 eingefügt. Aus der Röhre fließt normales Trinkwasser, kein schwefliges Thermalwasser mehr, Gott behüte.

Der öffentliche Trinkbrunnen von ehedem ist als schlicht elegante Erinnerung in den ziemlich gross geratenen Kubus der Residenz47 eingefügt worden. Aus der Röhre

Wir nähern uns dem neuen Herzstück der Bäderstadt, und es wird mächtig philosophisch. »Die Bäder sind mehr als das Thermalbad. Genauso, wie das Thermalbad mehr ist als der Bau eines renommierten Architekten, mehr als 47 Grad heisses Wasser, das aus dem Boden sprudelt. Deshalb ist das Fortyseven nicht einfach ein ›Botta-Bad‹ und schon gar kein Thermalbad wie jedes andere« – sondern was?

»In den Jahrzehnten bangen Wartens auf ein neues, grosses Thermalbad ist bei zahlreichen Menschen in und um Baden eine Hoffnung gekeimt und zur Erwartung gewachsen, dass allein dieses neue Bad die einstige Blüte des Bäderquartiers zurückbringe. Es ist die Erwartung an ein Heilsversprechen, das womöglich über die heilende Kraft des mineralreichsten Thermalwassers der Schweiz hinausgeht«, schwurbelt’s aus dem Blätterwald.

Im Zentrum stehe »das ganzheitliche Wohlbefinden – für Körper, Geist und Seele«. Sehr schön. Es zeigt sich aber, dass das ganzheitliche Wohlbefinden eine sehr individuelle Angelegenheit ist. Was der Stararchitekt Mario Botta darunter versteht, ist nicht zu übersehen. Wie ein Fort ragt die weitläufige Bäderanlage zur Limmat hinaus. Aus der Distanz schön anzusehen. Der Stein, Pietra di Lessinia, ein Kalkstein aus Italien, leuchtet im Winterlicht in warmem Orangegelb. Die Natursteine seien ein zentrales Stück in der architektonischen Komposition, die Botta für diesen besonderen Ort an der Limmat geschaffen habe. Aus der Nähe betrachtet ist der Naturstein – klingt nach handfestem Mauerstein, oder? – zentimeterdünn auf die Betonwände geklebter Schein.

»Dem Bäderquartier wohnt ein besonderer Zauber inne. Das Sprudeln aus dem Erdinnern und der aufsteigende Dampf wecken einen Hauch von Mystik, nicht aber von Esoterik.« Im Fortyseven achtet man auf Details und weiß, dass man vom mystischen Dampf allein nicht gefressen hat. »Es wird eine qualitativ hochwertige Gastronomie angestrebt, die aber nicht von den weissen Tischtüchern lebt, sondern nahbar und unkompliziert wirkt und auch Gesundes schmecken lässt. Vielleicht auch ergänzt mit einer Bar, wo die Musik den Geist beschwingt, aber das Trommelfell schont. Lebenslust wohnt da. Ballermann und Biederkeit finden sich beide anderswo. Dank der Grösse der Räumlichkeiten und der durchdachten Leitung der Besucherströme bleibt dieser Anspruch auch bei den erwarteten, höheren Besucherzahlen spürbar.« Uns scheint, die höheren Besucherzahlen haben, wenigstens an diesem Freitagabend, noch Luft nach oben.
Auch der Mättelipark, die grüne Oase von einst, muss noch zulegen. Der Grünfläche sieht man an, dass sich darunter eine Parkgarage verbirgt. Der »Spielplatz, klein aber fein, soll auch den jüngeren Gästen etwas zum Entdecken« bieten. Ein eigenartiger, zusammengepappter Steinhaufen, beschriftet mit »Qualitätsfelsen« und einer DIN-Nummer, lässt vor allem Fragen aufkommen. Kletterfelsen für die entdeckungsfreudigen Kleinen? Firmenwerbung? Kunst? Die Gedanken sind frei. Ein kleiner Fratz, offenbar Dino-Spezialist, tippt auf »Sauriersch…haufen«. »Pscht«, sagt der Papa.

Wir wandern die neue Promenade an der Limmat und den Mauerwall des Fortyseven entlang flussaufwärts. Jetzt kommt der Verein Bagni Popolari ins Spiel. Bagni Popolari, seit kurzem auch eine Genossenschaft, ist eben Besitzerin der alten Bäder im ehemaligen Raben am Kurplatz geworden. Ausgesuchtes Wellnessen ist nicht das Programm. Man will ein paar Schritte zurücktreten, in die vielfältige Badekultur vergangener Tage. »Ziel ist ein gemeinnützig betriebenes, lebhaftes Bad mit Zugang zu naturbelassenem Thermalwasser, Kunst und Bädergeschichte für alle. Es soll im Spannungsfeld zwischen historischem Kontext, zeitgenössischer Gestaltung und transdisziplinärem Programm umgesetzt werden.« Ein ambitiöses Vorhaben, an dem Bagni Popolari seit 2018 arbeitet.

Und mit den Heissen Brunnen schon ein witzig-kreatives Zeichen gesetzt hat. Im November 2021 wurden die beiden kleinen Trogbäder unter freiem Himmel eröffnet. Sie liegen einander gegenüber an der Limmat, als Erinnerung an die Freibäder von einst, wo das gesunde Wasser noch für alle da war. Die Gemeinde Ennetbaden und die Ortsbürgergemeinde Baden kommen für die Kosten auf.

Und die Nutzer sind da. Auch an einem grau-feuchten nieseligen Januartag. Der warme Wasserdampf umnebelt ein paar fröhlich plappernde Köpfe, das Wohlfühlen ist mit Händen zu greifen. Kleiderhaufen, Mäntel, Jacken, Stiefel, warten auf die Badenden, auch ein, zwei Kinderwagen. Schon nur der Gedanke, dass die Eingetauchten irgendwann wieder aussteigen müssen aus der wohligen Wärme, macht Hühnerhaut.

Die Füße ins warme Wasser gestreckt – und schon baumelt die Seele vor sich hin. »Be afraid of the enormity of the possible« – fürchte dich vor der Ungeheuerlichkeit des Möglichen, ungefähr. Diese rote Leuchtschrift beim Ennetbadener Heissen Brunnen, die steht nicht zufällig dem berühmten Botta-Bad gegenüber, oder? Wie gesagt, die Gedanken sind frei. Und ja, es ist (bloß) Kunst, nicht Klassenkampf.

Spazieren im Kopf:

David Hess, Die Badenfahrt, Hier und Jetzt, Baden 2017
Andrea Schaer, Willkommen im Garten Eden, Hier und Jetzt, Zürich 2022
 
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