Vom Kuren, vom Lauiecho, vom Fridli-Bier und einem prominenten Ehrenbürger. Mit Anlauf zur Quelle der Sihl

Ursula Bauer in Zu Fuß / 19. September 2023
Vom Kuren, vom Lauiecho, vom Fridli-Bier und einem prominenten Ehrenbürger. Mit Anlauf zur Quelle der Sihl

1. Tag: Ochsenboden–Fläschlihöchi–Schwialppass–Richisau ca. 6 Std.
2. Tag: Richisau–Schwellaui–Saas–Saaspass–Sihlseeli–Sihltalhütte–Untersihl–Gribschli–Ochsenboden 6 (bis Studen, Postbus) bis 6.30 Std. 
LK 1:25 000. 1152 Ibergeregg und 1153 Klöntal
 
Der erste Tag. Ochsenboden, Endstation für alles, was fährt, im Prinzip. Ein markanter Geschiebesammler und ein Golfplatz teilen sich die kleine Ebene hinter Studen. Nicht zu vergessen der Gebäudekomplex der RWM Rheinmetall hinter dem massiven Zugangstor. – Wir sehen uns morgen wieder.
 
Über dem Golfplatz verdampfen fein gewobene Frühnebel in der Morgensonne. Unser erstes Ziel ist der Fläschlipass, die Einsattelung im Grat unter dem Fluebrig. Auf der orographisch rechten Seite des Wisstannenbachs führt ein guter Maschinenweg in den Wald. Nach einer kleinen Brücke zweigt links ein Bergweg ab, der rot-weiß-markiert auf einer bewaldeten Krete hochzieht. Linkerhand rauscht in einem Tobel der Duliwaldbach, rechts unter der felsigen Flanke des Fluebrig rinnen kleine Wasser zum Wisstannenbach zusammen.
 
Oben auf der Höhe heizt die Sonne noch richtig ein, auch wenn’s schon längst September ist. Pause. Noch sind die Alpweiden und zipfligen Spitzen über dem Wägital sattgrün, die grauen Felsbänder einfach grau. Fehlt noch der Himmel, der ist selbstverständlich himmelblau. Darüber schwimmen zwei, drei kleine Wolken, weiß wie Wattebausche.
 
Fertig Bildbetrachtung. Denn, wie gewonnen, so zerronnen, es geht runter, ins Wägital (nein, nein, es kommt alles gut). Vorbei an einer kleinen Alphütte mit Geranien vor den Fenstern. Ein paar Kühe weiden noch zwischen den Tannen. »Erschlossen« wird das Älpli mit einer fragilen Güterseilbahn und einem holprigen Alpweg. Bei Alpeli unten kriegen wir die Kurve und zweigen rechts ab; ein frisch markierter Weg lotst uns durch einen märchenhaften Bergwald hinüber auf die Alp Ober Aberen.
 
Gleichmäßig und stetig gewinnen wir wieder an Höhe, rechts flankiert von der schrundigen Felsbarriere von Turner bis Fläschenspitz. Außerdem wird man von allerlei Getier begleitet. Von der Rinderweid über die Geissenwellen zum Otternried, dem Schläckwald entlang bis zum Schwialppass.
 
Schön ist es hier, und sehr still. Eine weite samtene Hochebene tut sich auf. Kleine Meliorationsgräben ziehen darin ihre Spuren. Nebel verfangen sich in Graten und Felsspitzen, tanzen mit den schräg einfallenden Sonnenstrahlen. Der Wegweiser für Richisau schickt uns über die grüne Weite der Brüschalp und auf einem sehr steilen Pfad den Wald hinunter an die Pragelstrasse. Weniger anstrengend (aber auch weniger direkt) ist es, mit der Tiergemeinde weiter zu trotten. Oberschwialp, Ochsenboden, Mittlerschwialp, Unterschwialp (das Sübödeli müssen wir leider rechts liegen lassen), aber der Schwialpbach begleitet uns. An der Strasse bei Gampel Hinterrichisau treffen sich die beiden Wege wieder. Ein Straßenkilometer noch bis zur Richisau in ihrem berühmten Ahornhain.
 
Das Gasthaus Richisau ist ein gutes Beispiel für neues Bauen in den Alpen, mit allem, was sonst noch dazu gehört, Kunst, Kultur, Küche. Diese Dreifaltigkeit prägte das Kuren in der Richisau schon im neunzehnten Jahrhundert. Die Klientele kümmerte sich weniger ums Kurangebot, als um den gesellschaftlichen Aspekt des Kurens ganz allgemein. Sommer für Sommer fand eine fröhliche Gesellschaft von (vor allem Zürcher) Kulturschaffenden zusammen. Weitherum bekannt war auch der Wirt Fridli Stähli. Rudolf Koller (ja, der mit dem Kalb vor der letzten Gotthardpost), ein häufiger Gast in der Richisau, porträtierte ihn, und Albert Heim, der sechzig Jahre Stammgast war, besang ihn als »euse Mah wie Gold«. Das führte ein gutes Jahrhundert später zum »Fridli Gold«, einem lokalen Bier. Mit oder ohne Fridli, hier anzukommen ist immer wieder ein Vergnügen. Im Herbst ist’s am Prächtigsten, wenn der Ahornhain in leuchtendem Gelb und Rot aufflammt. Und man zum Apero noch draußen sitzen und dem verdämmernden Tag zugucken kann. In der Gewissheit, dass es weder bei Tisch noch Bett was zu meckern geben wird.
 
Der zweite Tag. Nach einem währschaften Frühstück gehen wir zurück nach Hinterrichisau. Der alte Pragelweg führt, bequem die Kurven der neuen Straße schneidend, aufwärts. Ab Schwellaui (Parkplatz Eigeli) signalisieren, eher spärlich, rot-weiße Holzpfosten im steilen Grashang den Weg hoch zum Saaspass. Die letzten Höhenmeter windet sich eine gute Spur die steile Felsrippe hoch in die Passlücke. Tiefblau und tief unten der Klöntalersee, ein natürlicher See, den man mit einem Erddamm zum Stausee »ausgebaut« hat.
 
Wir wechseln die Seite. Zu unseren Füssen liegt jetzt das Sihlseeli, ein türkisblaues Auge in einem grünen Krater im kahlen, schrundigen Felsrund. Zwei Jungmänner wagen sich, unter dem Gejohle ihrer Freunde, bis zum Bauchnabel ins kalte Wasser. Das Echo johlt mit – laut einer Sage nicht freiwillig; es warte auf Erlösung aus dem einsamen Job. Die, na klar, nur ein kräftiger Jungmann vollbringen könne. Doch keinem sei es bisher gelungen, in der Karfreitagnacht (und nur dann) dem scheuen weißen Nebelwesen mit den goldenen Locken näher zu kommen, ihm auf seinen goldenen Fußspuren über den See zu folgen. Mal ganz praktisch betrachtet: Das Echo vom Lauiberg will gar nicht erlöst werden, es will doch nur spielen.
 
Das Sihlseeli ist zwar ein Seeli, aber nicht die Quelle der Sihl. Die liegt eine Geländestufe tiefer. Unterwegs weist rechterhand eine blau-weiße Markierung auf den alpinen Bergwanderweg ins Sihltal hin. Jetzt kommen auch noch die Schafe ins Spiel. »Während dem Sommer ist der Bergwanderweg hinauf zum Sihlseeli ab Gribschli-Fläschenhöchi gesperrt, da sich die Schafe dort aufhalten und diese durch Hütehunde beaufsichtigt werden«, mahnt das Tourismusbüro Ybrig.
 
In einem weiten Geröllkessel fließen die Wasser aus den Hängen zu einem wilden Bach zusammen, der Sihl. Wir wandern auf einer Fahrpiste den weiten Bogen im Talkessel aus, von der Sihltalhütte bis Untersihl. Dort ist fertig Straße. Was an Auto und Trax oben herumsteht, wird mit dem Hubschrauber eingeflogen. Haben wir es also mit einer echten oder einer Fake-Straße zu tun? Ins Gribschli hinunter führt jedenfalls eine kuhgerechte Bohlenstraße, die den Vierbeinern scheint’s besser behagt als manchen Menschenknien. Für die nächste gute Wanderstunde gibt’s kein Ausweichen; es gibt nur die asphaltierte Straße, der man ansieht, dass sie schon einiges durchgemacht hat. Das Tal ist eng und schattig, die Sihl ein wilder, ungestümer Bergbach in einem Tobel und die waldigen Hänge sind durchfurcht von steilen Runsen. Spätestens beim Schwyzerblätz sind wir wieder voll in der Zivilisation: »Vorsicht: Fliegende Golfbälle von rechts.« Solang’s nur das ist …
 
Auch der Ochsenboden spiegelt Zivilisation, nur anders: 1952 verkaufte das VBS den Ochsenboden, inklusive einiger Sanitätsbaracken aus den vierziger Jahren an Emil Bührle, beziehungsweise an seine Oerlikon-Bührle AG. Das abgelegene Gelände wurde zum militärischen Testgelände, auf dem in den siebziger Jahren auch uranhaltige Munition verschossen wurde. Die Entsorgung? Kein Problem, in einer simplen Grube wurde er verlocht, der Schrott. Der Ochsenboden ist immer noch Testgelände für so ziemlich alles, was man verballern kann, nur dass jetzt die Rheinmetall Tochter RWM Schweiz AG (ehem. Oerlikon Contraves Pyrotec AG), zuständig ist.
 
Emil Bührle stirbt 1956. Sein Sohn Dieter Bührle wird 1974 Ehrenbürger von Unteriberg.
 
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