Volkspark zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten – Die Sihl in der Stadt

Ursula Bauer in Zu Fuß / 22. December 2022
Volkspark zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten – Die Sihl in der Stadt
Zürich Manegg – Allmend Brunau – Sihlhölzli – Platzspitz: 2–3 Std.
Zürich VBZ Stadtplan 1:15'500
 
Was eine rechte Stadt ist, hat einen Stadtfluss zum Vorzeigen, Zürich hat zwei. Die Limmat und, hierarchisch nachgeordnet, die Sihl, der wilde, andere Fluss.
 
Die spröde Sihl erstarke »als Erholungsraum jenseits von Limmat- und Zürichsee-Glamour«. Erstarken ist immer gut. Mal sehen. 
 
Wir beginnen da, wo die Sihl, aus dem engen Sihltal entlassen, den Zürcher Stadtrand erreicht, in der Manegg.
 
In einer sanften Schlaufe umfließt die Sihl das neue Quartier, Zürichs Green City, ein »2000-Watt-Areal mit Vorbildcharakter«. Das Ufer entlang zieht sich der Spulenweg, eine Erinnerung an die Spinnerei Manegg (später Sihl Papier), die das Gelände 170 Jahre lang prägte. Rechts wachsen hinter Bauwänden die letzten hundert Wohneinheiten gen Himmel. Noch starren einige mit leeren Fensterlöchern ins Grüne, noch tanzen ein paar Kräne darüber ihr Kreiselballett. »Sehen, was sein wird«, empfiehlt die Baufirma. 
 
Nicht zu übersehen ist das, was schon ist. Wie ein massiger Riegel spannt sich die A3 über das Tal gen Zimmerbergtunnel. Die Sihl stromert zwischen den gedrungenen Brückenpfeilern der Autobahn durch, franst aus in helle Kiesflächen, in eine sorgfältig gestaltete Natürlichkeit, ein Biotop für alles, was da kreucht und fleucht und bellt.
 
Wer’s mit Hunden nicht so hat, wechselt besser nicht über die Höcklerbrücke auf die linke Flussseite. Der Spulenweg lotst einen durch den Knäuel von Straßenüber- und unterführungen, in Beton gegossene Ingenieursträume für eine Verkehrsführung 2.0. Wer’s auch mit den Bikern nicht hat, kann bald rechter Hand in einen kleinen Pfad am alten Fabrikkanal die Spinnerei Manegg entlang einschwenken, der, wieder ans Licht geholt, in eine grüne Halskrause gesteckt und unter Denkmalschutz gestellt worden ist. Willkommen in der Allmend Brunau!
 
Der Spulenweg endet beim Eiswehr in der Biegung des Flusses – 1970 glaubte man noch an kalte Winter und bedrohliche Eisgänge der Sihl. Hier treffen sich die Wege wieder, und wir biegen in die alte Kastanienallee ein, die schnurgerade über den ehemaligen Waffenplatz führt, zu einer Beiz, logisch. Heute marschieren nicht mehr Soldaten die Allee rauf und runter, keine Kavallerie trabt vorbei, kein deutscher Kaiser macht mehr Visite bei der Schweizer Armee.
 
Das Militär hat sich 1987 verzogen, ins Reppischtal (die Begeisterung dort hielt sich in Grenzen, aber das ist eine andere Geschichte). Das Gelände zwischen Uetliberg und Sihl lag nicht lange brach. Es wurde zur gigantischen Baugrube für Autobahnverzweigungen und Eisenbahntunnel und stieg 2010 als sorgfältig austarierter Erlebnis- und Erholungspark mit Zonenplan wie ein urbaner Phönix aus der Asche. Allmend Brunau: Was gilt wo?
 
Die Sihl, wieder brav eingemittet, fließt neben der Allee her, schäumt über Schwellen, spiegelt dazwischen im ruhigen Wasser den Himmel; sogar grau in grau macht was her, wenn ein Fischreiher durchs Bild stakst. Von Richis Kiosk, einer Art Kita für die lieben Kläffer und Stammbeiz vieler ihrer Zweibeiner, duftet’s nach Kaffee, Bratwurst, Bierseligkeit 365 Tage im Jahr, ein Hauch Wildwest im wohlgeordneten Parksystem. 
 
Rechter Hand dehnt sich die Erholungszone fürs eher kontemplative Spazieren den Biotopteichen entlang, fürs Familienpicknick, für kleine und größere Drohnenpiloten; linker Hand, westwärts, liegen die Sportanlagen. Wenn Paraglider-Novizinnen üben, wird’s bunt. Laut kann’s auch werden, Fußballspielen, Skateboarden, Reiten, an so ziemlich alles ist gedacht. 
 
Am Ende der Allee steht, wie angekündigt, die »Kantine«, über mehr als hundert Jahre die gute Stube des Wehrmannes. Momentan heißt die Wirtschaft »Fork & Bottle«, ein In-Lokal für globalisierte Foodies mit beträchtlichem Fassungsvermögen. Der schöne Biergarten liegt, ach, am Verkehrsfluss der Stadtautobahn, die die Allmend entlangrauscht. Und es wird eng, für die Sihl und für den Verkehr. Genial platzsparend und erbarmungslos herablassend stakst die Autobahn als Sihlhochstrasse auf Stelzen durchs Flussbett. Verschupften Hühnern gleich hocken ein paar Häuser im Schatten das Wasser entlang. Sihlcity, das erste Urban Entertainment Center der Schweiz, lassen wir links liegen, überqueren die Bederstrasse, kriegen kurz etwas Waldboden unter die Füße und tauchen unter den Gleisen der Sihltalbahn durch. Ein Fußgängersteg führt hinüber zur Bahnstation Giesshübel. Rechts vor uns ragt der Hochkamin der ehemaligen Hürlimann-Brauerei auf. Ein Lift verbindet die da unten mit dem Bierhügel dort oben; heute mit Hotel, Thermalbad, Google und Co. eine ziemlich hippe Umnutzung.
 
Wenig später wird’s auch hier unten hell. Nur noch der Stumpf der Hochstraße ragt über dem Flussbett vor, eine Planungsleiche aus dem letzten Jahrhundert, brauchbar eventuell noch als Kulturdenkmal – oder vielleicht auch nicht. Die freie Fahrt für freie Bürger endet, über eine Rampe geht’s, Nase an Heck, im Stau hinunter in den Zürcher Stadtverkehr. Im Schatten der Rampe hält sich ein kleiner Park versteckt, mit Kinderbädli und Sitzbänken, gesäumt von etwas Grün, wie eine Erinnerung ans alte Sihlhölzli.
Um das zu verstehen, blicken wir zurück ins 17. Jahrhundert. 1670 wurde über das weite, von Geröll durchzogene Flussbett der wilden Sihl ein Wuhr, ein gigantischer hölzerner Rechen von 300 Meter Länge gebaut – er reichte von der heutigen Bahnstation Giesshübel bis in die Sihlpromenade, dahin, wo wir stehen. Das Triftholz aus dem Sihltal staute sich am Rechen und wurde durch einen neu gegrabenen Kanal in die Selnau geführt, wo sich das große Holzlager der Stadt befand.
Zwischen der alten, der wilden Sihl und dem Kanal, der zahmen Sihl, entstand eine lang gezogene Insel. Auf der die Zürcher Naturforschende Gesellschaft um 1780 eine Waldpflanzung anlegen ließ, »zwecks Erforschung unbekannter Baumsorten«, mit Park zum Promenieren. Der Wald gedieh, die Spazierwege zerfielen. Dem Zürcher Bürgertum war das Sihlhölzli, weit außerhalb der Schanzen, zu abseitig. 
Doch Zürich reckte sich, und es krachte im Gebälk. Der doppelte Schanzengürtel aus der Barockzeit wurde geschleift; es blieb,1840 als Zeitzeuge gerettet, eine Bastion, die Katz, und ein Stück Schanzengraben. Und wenig später,1847, musste das Schützenhaus auf dem Platzspitz dem neuen Bahnhof weichen und wurde ins Sihlhölzli verlegt. Da war Platz für Feste im Sommer und Eislaufen im Winter, mit Kasino, Musikpavillon, Festhütte, mit dem imposanten Sihlwuhr und einem romantischen Wäldchen, ein Vergnügungspark wie aus dem Bilderbuch, inklusive Schaumühle mit Wasserrad, damals schon nur noch ein Blick in die Vergangenheit. 
 
Im Zürich des 19. Jahrhunderts dachte man groß und baute entsprechend. Die Kanäle wurden zugeschüttet, breite Straßen darübergelegt. Noch heute zeichnet die Uraniastrasse den Lauf des Sihlkanals nach, die Bahnhofstrasse den Fröschegrabe. Zürich als das Venedig der Schweiz – welch ein Knüller ist uns entgangen.
 
Auch das Sihlhölzli, der Vergnügungspark, die Insel, das verträumte Gehölz, wird Schritt für Schritt von der neuen Zeit verschluckt. Die wilde Sihl wird umgebettet und mit dem Sihlkanal zusammengeführt. Und auf der neu entstandenen Freifläche realisiert Hermann Herter, der Stadtbaumeister, nach 1930 eine dem »sozialpädagogischen Wert gesunder sportlicher Betätigung« gewidmete große Sportanlage mit Turnhallengebäude, dem ersten im boomenden Arbeiterquartier jenseits der Sihl. Viele Aussersihler hätten lieber ihr altes Sihlhölzli, den Volkspark, zurückgehabt. 
 
Mit dem Gehabe einer Grande Dame fließt die Sihl heute durch eine prächtige Allee muskulöser hundertjähriger Platanen. Das sittsame Fließen wird kurz von Schäumen und Rauschen unterbrochen. Unter einer eigenartigen Wölbung im Flussbett verbirgt sich ein Eisenbahntunnel, für den die Sihl auf einer Distanz von 900 Metern um fünf Meter angehoben werden musste in das heutige Kanalbett. Ein Kraftakt der Sonderklasse in einem gigantischen Bahnprojekt, das in der Zwischenkriegszeit Aussersihl und vor allem Wiedikon richtiggehend umpflügte.
 
In der Selnau wird nicht mehr Holz gelagert, und »Kraftwerk« nennt sich eine Beiz mit Eventhalle im ehemaligen Maschinensaal des EWZ-Unterwerks Selnau. Im Zeichen der (vermuteten) Energieknappheit 2023 stellt sich allerdings von neuem die Gretchenfrage: Strom oder Kultur? Das betrifft in diesem Fall das Museum Haus Kontruktiv im Nebengebäude. 
 
Für die Sihl sind die Zeiten definitiv besser geworden. Auf ihrem letzten Kilometer hat man sie vom strammen Kanalkorsett befreit – in vertretbarem Rahmen, versteht sich, aber wissenschaftlich begleitet. Sie sei »ein fast subversives Stück Natur, das mit seiner Widersprüchlichkeit herausfordert«, so die Experten. Nun ja, das tut sie nicht erst seit heute. Neu ist, dass uns kümmert, wie es ihr geht. Revitalisierung und Renaturierung sind die Wörter der Stunde. Und es bekommt den Fischen und den Enten gut. Wir verdanken dem Umstand einen grünen Uferpfad, vom Kraftwerk bis zur Rio Bar, wo der Schanzengraben zufließt und im Sommer unter der großen Platane kaum je ein Stuhl frei ist, dem Stadtlärm zum Trotz. Vorne verschwindet die Sihl in ihrem breiten Bett unbeirrt unter dem Hauptbahnhof, als wüsste sie, dass sie bald wieder ans Licht kommt, ein paar grüne Inseln umfließen, sogar mal darüber hinwegschwemmen darf, fast wie in alten Zeiten. Folgen können wir ihr (vorläufig) nur, indem wir einen Bogen um Hauptbahnhof und Landesmuseum herum in den Platzspitz machen, in das Stück Park, das noch geblieben ist. 
 
Ein Park, in dem sich das Zürcher Bürgertum gesetzten Schrittes zu ergehen beliebte oder beim Schützenhaus feierte und politisierte, wo Jahrmärkte stattfanden, das erste Knabenschießen, die Landesausstellung von 1883. Gottfried Keller liebte den Platzspitz, James Joyce auch, später. Und vor ein paar Jahrzehnten wollte ein Zürcher Stadtpräsident einen Lunapark hinstellen. Die triste Geschichte vom Needle Park wollen wir nicht aufwärmen. Der Platzspitz von heute ist zwar klein, aber fein. Und gleichberechtigt fließen Sihl und Limmat, je gesäumt von Baumalleen, dem Spitz entgegen. Wo sich der munter gemachte Fluss aus den Bergen mit der weit behäbigeren Limmat, dem Stadtfluss schlechthin, vereint. 
 
Und jetzt? Die Geschichte ist erzählt, der Tag grau und trüb, »kä Luscht« auf gar nichts, am wenigsten aufs Wandern? Fürs Sofawandern vielleicht Folgendes:
Zum Lesen: Hannes Lindenmeyer, Aussersihl bewegt. Der Zürcher Kreis 4, Rotpunktverlag, Zürich 2022.
Zum Surfen: Bilder und Illustrationen zum Sihlkanal, zum Sihlhölzli, zur wilden Sihl: von Wikipedia bis zum digitalisierten Material des Baugeschichtlichen Archivs der Stadt.
 
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